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Ihren Ausgangspunkt bildet die Thronrede vom 9. November 1886: „Die
Lage der Arbeiterklassen ist in hohem Maße des Interesses würdig und es
wird Aufgabe der Gesetzgebung sein, mit erneuter Fürsorge auf ihre Ver-
besserung bedacht zu sein. Vielleicht hat man zu sehr auf die Wirkung
der übrigens so fruchtbaren Prinzipien der Freiheit gerechnet. Das Gesetz
muß für die Schwachen und Unglücklichen einen speziellen Schutz schaffen“.
Zuvor schon im April 1886 war eine Untersuchungs- und Prüfungskommis-
sion für die industrielle Arbeit eingesetzt worden. Im Jahre 1887 wurden
dann Gesetze über die Bezahlung des Lohnes, über die Industrie- und Ar-
beitsräte, über die Unübertragbarkeit und Unpfändbarkeit des Lohnes ange-
nommen, im Jahre 1888 solche über die Arbeitsaufsicht, 1889 Gesetze über die
Arbeiterwohnungen und über die Frauen- und Kinderarbeit. Ins Jahr 1894 fällt
die Errichtung eines „Arbeitsamts“, das bald in das Ministerium für Industrie
und Arbeit verwandelt wurde; ferner befaßte sich die Gesetzgebung 1894 mit
den Unterstützungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit, 1898 mit den Berufsve-
reinen, 1900 mit den Altersrenten und dem Arbeitsvertrag, 1904 mit den Ar-
beitsunfällen, 1905 mit der Sonntagsruhe. Im Vergleich mit der deutschen So-
zialgesetzgebung läßt die belgische die innere Geschlossenheit und Folge-
richtigkeit vermissen; die Arbeiterversorgung beruht nicht auf dem System
der obligatorischen Versicherung, sondern auf dem der „unterstützten Frei-
heit“ (liberte subsidiee), das in Belgien sehr beliebt ist und in weitem Um-
fange zu Gunsten der Kirchen, der freien Unterrichtsanstalten, gemeinnützi-
ger Veranstaltungen aller Art angewendet wird, das, wie unser Verfasser
bemerkt, „die Einflüsse sichert, ohne die Verantwortung zu tragen“. Außer-
halb dieses Systems gewährt eine transitorische Bestimmung in dem Gesetz
vom 10. Mai 1900 über die Alterspensionen jedem belgischen Arbeiter
oder gewesenen Arbeiter, der in Belgien seinen Wohnsitz hat, im Jahre 1900
mindestens 65 Jahre alt war und sich in bedürftiger Lage befindet, eine
Pension von jährlich 65 Francs.
Zwei neue Einrichtungen treten in der neuen Bearbeitung des belgischen
Staatsrechts besonders hervor und sind auch durch ihren Inhalt geeignet,
die Aufmerksamkeit des deutschen Lesers auf sich zu ziehen, die neue
Gestaltung des politischen Wahlrechts und die Erwer-
bung des Kongo.
Das Königreich Belgien, das sich der freiheitlichsten Verfassung unter
den monarchischen Staaten rühmt, ist nicht zur Gleichmachung des poli-
tischen Wahlrechts fortgeschritten, es ist vielmehr die klassische Stätte des
abgestuften mit dem Proporz kombinierten Wahlrechtsystems. Bei der
Verfassungsberatung im Jahre 1831 wurde das Zensussystem angenommen,
damals hieß es, das allgemeine Stimmrecht sei eine undurchführbare Utopie,
in seinen Resultaten für die Freiheit verhängnisvoll, in Zeiten der Leiden-
schaft führe es zur Anarchie, in gewöhnlichen Zeiten und auf die Dauer
sichere es besser als jedes andere System den ausschließlichen Einfluß der