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System passen. Man bedenke, daß alles was ist, vernünftig ist
und daß auch auf Zustände das Wort paßt: der Lebende hat
recht. Diesen Neuerscheinungen nachzugehen, sie zu erforschen
und zu erfassen, ist die Aufgabe der Wissenschaft, sonst „laufen
wir Gefahr, das Leben der Gegenwart mit den Kategorien der
Vergangenheit zu erfassen“ 3%,
Neben diesen theoretischen Erwägungen waren aber auch
praktische Rücksichten für die Schaffung der Beamtengesetzent-
würfe maßgebend. Wie oben erwähnt, hatten sich im Beamten-
wesen zahlreiche Mißbräuche eingeschlichen, die, wie der Bericht
vom 18. Juni 1909 (Nr. 2572 8. 5) besagt, die berechtigtste und
gefährlichste Unzufriedenheit hervorgerufen haben 5%”. Bereits
MONTESQUIEU sagte: „La faveur est la grande divinite des
Frangais, le Ministre est le grand-pretre qui lui ofire bien des
victimes“. Die Günstlingswirtschaft ist es gewesen, die schon
früh in Frankreich den Ruf nach festen Regeln für die Beamten-
anstellung und -Beförderung hat ertönen lassen. Seit der Juli-
Revolution sind zahlreiche dahingehende Anträge gestellt wor-
den und 1848 schien es ja, wie oben erwähnt, als ob ein grund-
legendes Gesetz diese für die Staatsmoral so überaus wichtige
Frage endgültig regeln würde. Leider ist das nicht der Fall
gewesen. Zur Zeit, sagt der Bericht des Abgeordneten ÜHAIGNE °%,
sei es die allgemeine Ueberzeugung, daß die Gunst alles ver-
möge und daß das bescheidene Verdienst alle Aussicht habe,
unbekannt zu bleiben. „L’avancement promis au merite est le
benefice de l’intrigue et de la faveur.“ Selbst die Begründung
des Regierungsentwurfs betont (8. 1), daß man den Beamten
gesetzliche Sicherheiten gewähren müsse, die sie gegen die Will-
kür und die Günstlingswirtschaft schützten.
—.
62 JELLINEK, Ueber Staatsfragmente in der Festgabe der jur. Fakultät
Heidelberg zum Geburtstag des Großherzog von Baden, 1896, S. 262.
53 Vgl. auch die Zeitung Le Temps No. vom 30. I. 1906.
52 Komm.-Bericht S. 5.