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denn die politisch verständnislosen, zur Wahlhandlung genötigten Wähler
werden allzuoft von sachwidrigen Beweggründen bei der Stimmabgabe ge-
leitet sein. Nicht ein Funktionär, ein Staatsorgan, das seiner Amtspflicht
zuwiderhandelt oder sie vernachlässigt, ist der Wahlsäumige nach der An-
schauung des Verfassers, sondern nur ein zu einer staatlichen Funktion
befähigter, der die Annahme der ihm angebotenen Funktion in einem
konkreten Falle ausschlägt. — In seiner Analyse der einzelnen, bei Nicht-
erfüllung der Wahlpflicht zur Anwendung kommenden Strafmittel
(Verweis, öffentlicher Namensanschlag, Geldstrafe, Wahlrechtsaberkennung,
Entziehung des Vertretungsrechts ganzer Wahlkörper) legt der Verfasser
dar, wie keine der Strafrechtstheorien auf diesem Gebiete Stand hält, wie
keiner der rationellen Strafzwecke hier zur Verwirklichung gelangt.
Vielleicht wäre es angemessen gewesen, bei der Behandlung der Frage
der Wahlpflicht, ähnlich wie für die Verpflichtung zur Annahme der Wahl,
eine Differenzierung nach den Wahlen für Gemeindezwecke und für Volks-
vertretungen vorzunehmen; denn es ist klar, daß für manche administra-
tive Wahlen in Gemeinden niedriger und höherer Ordnung die Pflicht
zu wählen praktisch so wenig, wie die Wahlannahmepflicht,
entbehrt werden kann. Vielleicht erklärt sich eben daraus die Erscheinung,
daß die Wahlpflicht sich in kleineren Kreisen entwickelte, wo ja vielfach
Staats- und Gemeindeinteresse zusammenfällt.
Mag man aber auch nicht in allen Punkten den Ausführungen des Ver-
fassers beistimmen, mag man selbst in der Hauptfrage, in der Frage der
rechtlichen Zulässigkeit der Wahlpflicht, anderer Ansicht sein, in jedem
Falle muß zugestanden werden, daß das Werk nicht nur das unmittelbare
Thema nach allen Seiten gründlich erörtert, sondern auch für den Ausbau
der ganzen Wahleinrichtung höchst wertvolle Anregungen bietet. Insbe-
sondere kann nicht eindringlich genug auf die lebhaften Ausführungen auf
Seite 27 bis 91 der Schrift („Die subjektiven und objektiven Faktoren der
Wahlabstinenz“) hingewiesen werden, wo so manche Mißstände und Ge-
brechen aufgezeigt werden, deren Beseitigung viel besser, als die strengste
Wahlpflicht, der Teilnahmslosigkeit der Wähler, der Scheu, Farbe zu be-
kennen, steuern würde. Diese Darlegung ist ohne Zweifel der wertvollste
Teil des Werkes. Hier kommt die Ueberzeugung zum Ausdrucke, es sei
eine sittliche Pflicht der Machthaber im Staate, die ganze staatliche Ge-
barung so zu gestalten, daß die Staatsangehörigen Interesse und Freude
‘daran empfinden und sich eins mit dem Staate fühlen; gewiß ist, daß dann
wenn auf diesem natürlicheren Wege das Ziel erreicht ist, es nicht mebr
des kleinen Mittels der unter Strafe gestellten Wahlpflicht bedarf, um die
allgemeine Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten wach zu erhalten.
D. Max Schuster-Bonnott.
Archiv für öffentliches Recht. KXVI. 4. 41