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Ill.
Nunmehr wollen umgekehrt wir den Beweis antreten, daß
weder der Code Napoleon, noch das österr. ABGB. von 1811
mit der BENTHAMschen Theorie der „Geschlossenheit des
Gesetzbuches“ etwas zu schaffen hat, daß vielmehr beide Kodifika-
tionen auf dem Standpunkte der Lückenhaftigkeit des Ge-
setzbuches stehen. Dabei werden uns, wie bereits angedeutet !®,
gerade die Normen über die „richterliche Gebundenheit an das
Gesetz“ wertvolle Dienste leisten.
Diese Normen — sowohl im Code Napoleon (Art. 4)", als
auch im österr. ABGB. (8 7)! — gehen von der Auffassung
aus, dass der Richter, dem ja der refere legislatif nicht mehr
zur Verfügung steht, zweifelhafte Rechtsfälle in letzter Linie auf
Grund des Naturrechts zu entscheiden habe, daß also m. a. W.
das Naturrecht über Zweifel und Lücken des Gesetzes hinweg-
helfen müsse.
1. Was zunächst den Code Napoleon betrifft, so kommt
dies zwar nicht im Gesetze selbst, wohl aber in der Redaktions-
geschichte des Art. 4 zum Ausdruck. Ich habe bereits in meiner
Schrift (S. 421) darauf hingewiesen, daß namentlich der Motiven-
bericht, der von PORTALIS in der Sitzung des Corps legislatif
vom 23. II. 03 (4 ventöse an XI) erstattet worden ist, ganz und
gar in diesem Sinne gehalten ist:
„L’office des lois est de statuer sur les cas qui arrivent le
18 S. die Schlußbemerkung in Abschn, 1.
17 Wortlaut oben Anm. 7.
18 Wortlaut: Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus
dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in
den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer da-
mit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechts-
fall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig ge-
sammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechts-
grundsätzen entschieden werden.