Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 27 (27)

— 124 — 
formellen Beanstandungen ergibt!. Auch die Verhältniszahl der giltigen 
Wahlzettel war für die Verhältniswahlen 1908 günstiger als für die Mehr- 
heitswahlen des Jahres 1905, obwohl das der erste Wahlakt nach dem 
neuen Gesetze war und das Gesetz kaum erlassen, auch schon angewendet 
wurde. Das gleiche wird aus den schweizerischen Kantonen, insbesondere 
aus bäuerlichen Gemeinden berichtet, sowie aus Belgien und selbst von 
einem Gegner des Proporzes für Hamburg zugegeben ?. Diese Ansicht von 
der geringen Popularität scheint von einer Verwechslung des Proportionali- 
tätsprinzips mit der Art der Wahldivisorberechnung herzurühren: daß jede 
Partei nach ihrer Stärke in den Parlamenten vertreten sein soll, ist eine 
selbstverständliche Forderung, wie aber dann der Wahldivisor gefunden 
wird, ob nach dem d’Hondtschen System, nach dem Restverteilungsverfahren 
oder nach dem Verfahren des Prof. Hagenbach-Bischof, oder ob ein fester 
Wabhldivisor von vornherein gesetzlich festgelegt ist, geht das Prinzip 
an sich nichts weiter an. 
Der Hauptirrtum KunwALos scheint mir aber in seiner Ansicht über 
das Verhältnis zwischen den Wählern und den Parteien zu liegen. Tat- 
sächlich stehen eben die Wähler heute nicht mehr außerhalb der Parteien, 
die sich, wie KunwALn selbst an einer Stelle zugibt, immer mehr darauf 
beschränken, die geistigen und kulturellen Tendenzen bestimmter Gruppen, 
bestimmte wirtschaftliche Interessen, bestimmte soziale Schichten und deren 
Wünsche und Ideale ausschließlich zu vertreten und die Vertretung anderer 
Schichten, anderer Ideen und Interessen anderen Parteien zu überlassen. 
Die heutigen Parteien identifizieren sich also nıit bestimmten Klassen, sodaß 
man wie in eine bestimmte Klasse auch in eine bestimmte Partei sozusagen 
hineingeboren wird. Wählerschaft und Partei sind also nicht etwas einander 
fernstehendes, sondern identische Begriffe. Aus dieser Trennung von Wählern 
und Partei ergibt sich auch die falsche Forderung KunwAups, daß der 
Wahlakt vornehmlich der Ausdruck des Vertrauens in eine bestimmte Person 
als Abgeordneten dokumentiere. Das persönliche Vertrauen mag früher eine 
dominierende Rolle gespielt haben. War früher der einzelne Abgeordnete 
in seinem Verhältnis zu den Wählern Gegenstand des persönlichen Vertrauens, 
so hat sich heute in der Zeit der industriellen Entwicklung und der Klassen- 
bildung zwischen Wähler und Abgeordnete die Partei mit ihrem festen 
Programm geschoben, der die Wähler ihr Vertrauen entgegenbringen. Ob 
nun ein Bebel oder Vollmar das Programm seiner Partei im Reichstag ver- 
tritt, könnte bei der heutigen Disziplin unserer Parteien der Wähler der 
Parteileitung ruhig überlassen, muß es aber nicht, was das Institut der 
Vorzugsstimme im belgischen und der Stimmenhäufung im bayerischen Ge- 
ı Vgl. PıLortx im Jahrbuch des öffentl. Rechts IIl, 483. 
2 Vgl. SEELIG und WaAcH im Jahrbuch des öffentl. Rechts II, 153; 
III, 401. —
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.