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formellen Beanstandungen ergibt!. Auch die Verhältniszahl der giltigen
Wahlzettel war für die Verhältniswahlen 1908 günstiger als für die Mehr-
heitswahlen des Jahres 1905, obwohl das der erste Wahlakt nach dem
neuen Gesetze war und das Gesetz kaum erlassen, auch schon angewendet
wurde. Das gleiche wird aus den schweizerischen Kantonen, insbesondere
aus bäuerlichen Gemeinden berichtet, sowie aus Belgien und selbst von
einem Gegner des Proporzes für Hamburg zugegeben ?. Diese Ansicht von
der geringen Popularität scheint von einer Verwechslung des Proportionali-
tätsprinzips mit der Art der Wahldivisorberechnung herzurühren: daß jede
Partei nach ihrer Stärke in den Parlamenten vertreten sein soll, ist eine
selbstverständliche Forderung, wie aber dann der Wahldivisor gefunden
wird, ob nach dem d’Hondtschen System, nach dem Restverteilungsverfahren
oder nach dem Verfahren des Prof. Hagenbach-Bischof, oder ob ein fester
Wabhldivisor von vornherein gesetzlich festgelegt ist, geht das Prinzip
an sich nichts weiter an.
Der Hauptirrtum KunwALos scheint mir aber in seiner Ansicht über
das Verhältnis zwischen den Wählern und den Parteien zu liegen. Tat-
sächlich stehen eben die Wähler heute nicht mehr außerhalb der Parteien,
die sich, wie KunwALn selbst an einer Stelle zugibt, immer mehr darauf
beschränken, die geistigen und kulturellen Tendenzen bestimmter Gruppen,
bestimmte wirtschaftliche Interessen, bestimmte soziale Schichten und deren
Wünsche und Ideale ausschließlich zu vertreten und die Vertretung anderer
Schichten, anderer Ideen und Interessen anderen Parteien zu überlassen.
Die heutigen Parteien identifizieren sich also nıit bestimmten Klassen, sodaß
man wie in eine bestimmte Klasse auch in eine bestimmte Partei sozusagen
hineingeboren wird. Wählerschaft und Partei sind also nicht etwas einander
fernstehendes, sondern identische Begriffe. Aus dieser Trennung von Wählern
und Partei ergibt sich auch die falsche Forderung KunwAups, daß der
Wahlakt vornehmlich der Ausdruck des Vertrauens in eine bestimmte Person
als Abgeordneten dokumentiere. Das persönliche Vertrauen mag früher eine
dominierende Rolle gespielt haben. War früher der einzelne Abgeordnete
in seinem Verhältnis zu den Wählern Gegenstand des persönlichen Vertrauens,
so hat sich heute in der Zeit der industriellen Entwicklung und der Klassen-
bildung zwischen Wähler und Abgeordnete die Partei mit ihrem festen
Programm geschoben, der die Wähler ihr Vertrauen entgegenbringen. Ob
nun ein Bebel oder Vollmar das Programm seiner Partei im Reichstag ver-
tritt, könnte bei der heutigen Disziplin unserer Parteien der Wähler der
Parteileitung ruhig überlassen, muß es aber nicht, was das Institut der
Vorzugsstimme im belgischen und der Stimmenhäufung im bayerischen Ge-
ı Vgl. PıLortx im Jahrbuch des öffentl. Rechts IIl, 483.
2 Vgl. SEELIG und WaAcH im Jahrbuch des öffentl. Rechts II, 153;
III, 401. —