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Staatsnotrecht.
Eine verwaltungsrechtliche Betrachtung im Anschluß an
die preußische Rechtsübung.
Von
Dr. WOLZENDORFF, Wiesbaden.
Das ältere Staatsrecht suchte den Rechtsschutz der Indivi-
dualrechtssphäre in der Konstruktion besonders qualifizierter
Rechte, der erworbenen Rechte, die regelmäßig dem Eingriffe
der Staatsgewalt entzogen sein sollten. Nur ausnahmsweise sollte
bei Kollision zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse das
„Staatsnotrecht“ derartigen Eingriff gestatten. Für Beschrän-
kungen der Individualrechte durch staatlichen Eingriff im Wege
des formellen Gesetzes hat dieser Satz wegen der formellen Un-
beschränktheit der Staatsgewalt, die heute allgemein anerkannt
ist, im modernen Staatsrecht keine Bedeutung mehr. Das Staats-
notrecht galt aber in der älteren Staatsrechtslehre, deren Spu-
ren noch in die neueste Zeit reichen !, weiterhin als eine Stütze
staatlicher Verwaltungsakte. Ein Staatsnotrecht in dieser
ı Vgl. z. B. MArTıN „Ueber die rechtliche Natur der Zwangsenteignung
des Privateigentums“ Arch. f. prakt. Rechtswsch. IX, 1862, S. 65; v. GERBER,
Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, S. 39; BURCK-
HARDT, „Zur Lehre von der Expropriation“ Ztschr. f. Zivilrecht und Zivil-
prozeß Bd. VI, 1849, S. 208ff.; L. v. Rönne, Das Staatsrecht der preußi-
schen Monarchie 4. Aufl. Bd. II, 1882, S. 99.