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legenden Normen formell und materiell unter den Begriff einer
„Verfassung“ fallen, ob sie als die grundsätzliche rechtliche
Regelung der unter Garantien gestellten konstitutionellen Herr-
schaftsordnung eines selbständigen Landes mit eigenem Reprä-
sentativsystem und geschützter Öffentlicher Rechtsstellung seiner
Bürger angesehen werden können. Denn die Entscheidung dieser
in den folgenden Ausführungen zu behandelnden Frage charak-
terisiert nicht nur die staatsrechtliche Stellung des Annexions-
landes im Verbande der Monarchie, sondern sie enthält im Kerne
das große Staatsproblem Oesterreich-Ungarns selbst.
Das gegenständliche Gesetzeswerk ist freilich nicht ausdrück-
lich als „Verfassung“ bezeichnet; wohl aber wurde demselben
schon im voraus durch das Annexionsinstrument und ebenso in
der gleichzeitigen Proklamation an das bosnisch-herzegowinische
Volk, als auch in der das Gesetzeswerk selbst einleitenden kaiser-
lichen Entschließung der ausdrückliche Zweck beigelegt, durch
dasselbe „verfassungsmäßige Einrichtungen zu gewähren‘ und
damit eine „volle gesetzliche Sicherung des Rechtszustandes“ des
Landes; den Angehörigen desselben aber den „vollen Genuß
der bürgerlichen Rechte“ zu gewährleisten und ihnen durch
Schaffung einer Landesvertretung die Mitwirkung an der Gesetz-
gebung und eine parlamentarische Kontrolle der Verwaltung und
Rechtspflege ihres Landes zu sichern. In Theorie und Praxis
wird daher der gesamte Komplex der besagten Februargesetze
als „die bosnisch - herzegowinische Verfassung“ bezeichnet und
behandelt. Diese Normen zerfallen ihrer äußeren Fassung nach
in folgende Teile: In eine einleitende Verordnung, ein Landes-
statut, eine Landtagswahlordnung, eine Geschäftsordnung für den
Landtag, ein Vereinsgesetz, ein Versammlungsgesetz und ein
Gesetz über die Organisation der Bezirksräte. Das Landesstatut
besteht wieder aus mehreren großen Abschnitten: an eine Ein-
leitung über die Regierungs- und Vollzugsgewalt schließt sich
die Organisation und die Umschreibung des Wirkungskreises des