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Verfassungen einzuverleiben, enthält nach keiner Richtung hin
eine Beschränkung oder Bindung des Monarchen in seinem bis-
herigen selbständigen Verordnungsrecht im Neulande. Das kon-
stitutionelle Prinzip der österreichischen und ungarischen Ver-
fassung konnte hier, auf dem außerhalb der beiden Staaten liegen-
den Gebiete nicht von selbst in Geltung treten; seine Wirksam-
keit hört an den österreichisch-ungarischen Grenzpfählen auf.
Die bosnische Verfassung aber, welche der Monarch ohne Mit-
wirkung und ohne vorgängige oder nachträgliche Zustimmung
einer Volksvertretung erlassen hat, gibt dem neuen bosnischen
Landtage ein Mitwirkungsrecht für die Gesetzgebung nur in
taxativ aufgezählten Fällen. Weder hier, noch in einem der
anderen auf Bosnien-Herzegowina bezüglichen Staatsakte ist die
Bindung des Herrschers bei der Rechtsetzung an eine Volks-
vertretung als allgemeiner Grundsatz ausgesprochen oder
auch nur angedeutet; nirgends ist auch das Gresetzeswerk vom
17. Februar 1910 als „konstitutionelle Verfassung“ oder „Kon-
stitution“ bezeichnet. Wir müssen daher nicht nur den Fort-
bestand eines selbständigen, originären kaiserlichen Verordnungs-
rechts neben Landtag, paktierter Gesetzgebung und Delegationen
annehmen, sondern diesem Verordnungsrecht, welches sich auf
die Grundlagen der gesamten Rechtsordnung im Neulande er-
streckt, den Vorzug der Kompetenzpräsumtion gegenüber den
anderen Wegen der Gesetzgebung einräumen.
Nur aus dieser vorragenden Stellung des kaiserlichen Ver-
ordnungsrechts ist auch das Fehlen einer Regelung des Not-
verordnungsrechts in der bosnischen Verfassung zu erklären. In
keinem anderen Staate oder Gebiete wäre an sich der Bestand
eines solchen so notwendig wie im Annexionslande, das kurz
vorher erst mit militärischer Gewalt aus dem eingewurzelten Zu-
stande trostloser Anarchie herausgearbeitet werden mußte, wel-
ches als Balkanland rings dem gefährlichen Einflusse von un-
berechenbaren, wechselnden politischen Bewegungen ausgesetzt