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bosnisch-herzegowinischen Volke steht der Monarch als Träger
der obersten Gewalt, als Quelle allen Rechts und aller Herr-
schaft. All diese gewichtigen Argumente unterstützen die An-
nahme eines bosnisch-herzegowinischen Staatswesens, wenn auch
mit Rücksicht auf seine Abhängigkeit von Oesterreich-Ungarn
eines solchen von besonderer Art. Dennoch aber ergeben sich
bei näherer Betrachtung schwere Bedenken gegen eine solche
Auffassung:
Der Monarch übt die Herrschaft im Annexionslande nicht
als dessen selbständiges und oberstes Organ, sondern nur
als Kaiser von Oesterreich und König von Ungarn aus. Sein
Herrschertitel erfuhr weder durch die Annexion, noch durch die
Februargesetze eine Aenderung; in allen die Annexion und die
bosnische Verfassung betreffenden Staatsakten nennt sich der
Monarch ausschließlich mit seinem bisherigen Titel. Der inhalt-
lich ganz unbestimmten althergebrachten geschichtlichen Bezeich-
nung als „Herr von Rama“ im ungarischen Königstitel kommt
eine staatsrechtliche Kraft ebensowenig zu, wie dem Attribute
„König von Jerusalem“ im Österreichischen. Die Annexionsakte
sprechen ausdrücklich von einem „Erstrecken“'!d der bis-
herigen Souveränetät des Monarchen auf das Okkupations-
gebiet und demgemäß begnügt sich das Annexionsinstrument mit
dem Verweis auf die für das Kaiserhaus geltende und nun auch
für das Neuland zur Anwendung zu bringende Thronfolgeord-
nung. Die territorial erstreckte Souveränetät übt der Monarch
nicht durch einen eigenen bosnisch-herzegowinischen Minister,
sondern durch seinen gemeinsamen Finanzminister aus, welcher
aber dadurch nicht die Nebeneigenschaft eines dem bosnischen
Landtage verantwortlichen Landesministers erhielt. Bosnien-
Herzegowina besitzt demgemäß kein eigenes Staatsoberhaupt,
sondern wird von dem jeweiligen österreichisch-ungarischen Mo-
15 Deber den Ausdruck „Erstrecken“ vgl. TETZNER, „Der Kaiser“ S. 264.
266 ff.