— 325 —
Parlamente haben die hohe Bedeutung der Situation nicht er-
faßt oder nicht erkennen wollen, und so sind die bezüglichen
Regierungsvorlagen wirkungslos geblieben °. Auch die Dele-
gationen, für welche gerade unlängst die Vorlage des Rotbuches
über die Annexion Bosniens durch die gemeinsame Regierung einen
naheliegenden Anlaß gegeben hätte, haben die Tatsache der Ver-
fassungsumwandlung nicht zum Gegenstande ihrer Verhandlungen
gemacht.
Auch hier muß ich auf meine ausführlicheren Darlegungen im
nächsten Jahrbuche für öffentliches Recht verweisen.
Es empfiehlt sich, von dem Begriffe der „gemeinsamen
Angelegenheiten“ auszugehen. Als solche bezeichnen die
österreichisch-ungarischen Ausgleichsgesetze von 1867 mit scharfer
inhaltlicher Umschreibung jene Belange politischer und wirtschaft-
licher Natur, welche die wichtigsten gemeinschaftlichen Interessen
Oesterreichs und Ungarns umfassen und deren einheitliche und
gleichartige Behandlung für beide Staaten als eine Bedingung‘
des Bestandes und der Großmachtstellung der Gesamtmonarchie
erscheint. Sie bilden neben der Gemeinsamkeit des Herrschers
den eigentlichen Inhalt der Realunion. Auf diesen Gebieten sind
die beiden Staaten in ihren Funktionen gegenseitig gebunden ;
bei allem, was außerhalb dieser Gebiete liegt, sind sie von ein-
ander rechtlich unabhängig, Der Art ihrer einheitlichen Be-
handlung nach unterscheidet das österreichisch-ungarische Staats-
recht zwei Gruppen von gemeinsamen Angelegenheiten: solche,
deren Besorgung durch eigene gemeinsame Organe und Anstalten,
also nicht durch nationale Organe der beiden Staaten im Neben-
einanderwirken geschehen soll. Das sind die „simultanen“ oder
„pragmatischen“ oder gemeinsamen Angelegenheiten im engeren
graphischen Protokolle des österreichischen Abgeordnetenhauses XVII
Session 1908.
26 Vgl. dazu KLEINWÄCHTER in der Zeitschr. f. Politik, II. Bd. S. 150 ff.;
TETZNER, Der Kaiser S. 267.
Archiv des öffentlichen Rechts. XXVIT, 2. 22