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verfassungen ändernde territoriale Kompetenzerweiterung des
österreichischen Reichsrates und des ungarischen Reichstages
über die Grenzen der beiden Staaten hinaus liegt.
Nach der bisherigen Betrachtung kann es wohl kaum be-
stritten werden, daß die bosnischen Februargesetze von 1910
wesentlich in den bisherigen Rechtsbestand der österreichischen
und ungarischen Verfassung eingegriffen haben, obwohl in keinem
der beiden Staaten der Monarchie eine verfassungsändernde Ge-
setzgebung ins Werk getreten ist. Diese Tatsache ist aber zu-
gleich ein gewichtiger Hinweis darauf, daß es sich bei dem Er-
lasse dieser Gesetze nicht um die Herstellung der selbständigen
Verfassung eines fremden, außerhalb Oesterreichs und Ungarns
liegenden Landes handeln konnte, welche die beiden alten Staaten
nicht berührt, sondern daß es sich vielmehr um ein Gesetz-
gebungswerk handeln muß, welches in untrennbarem Zusammen-
hang mit der österreichischen und ungarischen Verfassung, mit
dem staatlichen Bau der Gesamtmonarchie steht. Reichsrecht,
nicht Landesrecht ist es, das da geschaffen wurde; ein Recht,
welches den Prozeß einer bedeutsamen Weiterentwicklung des
österreichisch-ungarischen Staatengebildes zum Ausdrucke bringt,
nicht aber eine selbständige staatliche Ordnung des Jandes
Bosnien-Herzegowina schaft.
Es mag vielleicht mit Recht gesagt werden, daß die Schöpfer
der bosnischen Februargesetze ein solches weitgestecktes Ziel
durchaus nicht vor Augen hatten, sondern der Not der politi-
schen Situation gehorchend in schwierigen Verhandlungen auf
dem Wege von Kompromissen eine rechtliche Ordnung der Herr-
schaft im annektierten Lande herbeizuführen suchten, welche der
Frage des künftigen staatsrechtlichen Schicksals des Neulandes
nicht präjudizierte und vorläufig eine ungeteilte und völlig gleich-
berechtigte Herrschaft Oesterreichs und Ungarns dortselbst ein-