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Ob die Gesetzesuntertanen trotz der Gesetzesunkenntnis als Adressaten an-
gesehen werden dürfen, d. h. ob die Fiktion der Gesetzeskenntnis rechts-
politisch erforderlich oder konstruktiv unvermeidlich ist, darin liegt das
Problem; die ebenso scholastische wie unbestreitbare Erwägung, daß „be-
fehlen“ ein Aktivum ist, daß es also auf das Erteilen und nicht auf das
Auffassen ankommt, ist in unserer Untersuchung absolut unfruchtbar.
Endlich erwähne ich ein berechtigteres, schon von v. BAR (Gesetz und
Schuld I, 6) vorgebrachtes, vom Verf. wiederholtes (S. 118) Bedenken. Es
sei gefährlich, zu bestreiten, daß die Gesetze an das Volk gerichtet sind,
weil sich dann die Konsequenz ergibt, daß der Gesetzgeber auf Gemein-
verständlichkeit keinen Wert zu legen habe. Ich erwidere mit GUTHERZ
(Schweiz. Zeitsch. f. Strafrecht 1907, S_ 357): Mehr wird ein Gesetz nie
leisten können, als von den weniger fähigen Staatsorganen verstanden zu
werden. Im übrigen darf aber, zumal in einer so eminent praktischen
Frage, wie es die Gesetzestechnik ist, neben dem systematisch Notwendigen
auch das Nützliche berücksichtigt werden. Und wie ich niemals bezweifelt
habe, daß ‚Gesetzeskenntnis für jeden Bürger opportun ist, so fällt es mir
nicht ein, der Gemeinverständlichkeit der Gesetze die Nützlichkeit abzu-
sprechen.
Inı vierten Kapitel entwickelt der Verf. seine eigene Theorie. Sie läßt
kein „entweder — oder“ gelten, sondern sucht mit einem dominierenden
„sowohl — als auch“, das nur durch die Einschaltung von in erster und
zweiter Linie in eine etwas bestimmtere Richtung geleitet wird, durch alle
Schwierigkeiten hindurchzusteuern. Die Rechtsnormen sind sowohl Befehle
als Ermächtigungen. In ihrer imperativen Funktion sind sie sowohl an die
Staatsbehörden als an die Untertanen gerichtet, im Öffentlichen Recht in
erster Linie an die Organe, im Privatrecht in erster Linie an die Bürger.
Daher ergibt die spezielle Untersuchung des materiellen Strafrechts, daß
dessen Normen sowohl den Richtern als den Untertanen Befehle erteilen,
dem Richter wird befohlen, zu strafen, dem Untertanen (in zweiter Linie!),
die bedrohte Handlung zu unterlassen. Demgemäß müßte die Gesetzes-
kenntnis für beide Kategorien gefordert werden; der Verf. schwächt die
Konsequenz jedoch ab und erklärt, Gesetzeskenntnis sei für die Bürger
nicht notwendig, aber nützlich.
Unter den Richtern dürfen die Geschworenen nicht als Normadressaten
angesehen werden, da sie an der Verhängung der Strafe nicht teilnehmen.
Im Strafprozeß finden sich Normen, die bloß an Staatsorgane, und hierunter
wiederum solche, die nicht an den Richter, sondern bloß an andere am
Prozeß beteiligte Beamte gerichtet sind. In dieser Weise wird die Theorie
noch in manchen anderen Einzelfragen ausgebaut und abgeschlossen.
Man legt das Buch aus der Hand in dem Gefühle, viel richtige Be-
hauptungen gelesen zu haben und doch nicht gefördert zu sein. Und geht
man dem Grunde dieses Eindrucks nach, so findet er sich wohl darin, daß