— 455 —
Robert v. Mayr, Entwicklungen und Rückschläge in der
Rechtsgeschichte. Eine akademische Antrittsrede. S. 69.
Prag, J. G. Calve.
Der Verfasser wirft zunächst einen Blick auf die jüngsten Forschungs-
ergebnisse der römischen Rechtsgeschichte, die sich in den letzten Jahr-
zehnten bekanntlich immer mehr zur antiken Rechtsgeschichte erweitert
hat. Diese Ergebnisse scheinen vorläufig allerdings mehr negativer Natur
zu sein. Infolge der ungeheuren Zunahme des von der Forschung zu ver-
arbeitenden Materials — man denke an die ägyptischen Papyrusfunde —
ist eben in zahlreichen Punkten an die Stelle vermeintlicher Gewißheit die
größte Unsicherheit getreten. Auch auf denjenigen, der sich mit der römi-
schen Rechtsgeschichte nur als Student beschäftigt hat, muß es einiger-
maßen deprimierend wirken, wenn der Verfasser erklärt, daß die gene-
tische Erforschung des römischen Rechts wiederum fast in den Anfängen steckt.
Etwas weniger skeptisch äußert sich der Verfasser über eine Reihe
von Erscheinungen, die er als „Rückschläge“ bezeichnet. Unter diesem
Schlagwort bespricht er zunächst den Formalismus des Rechtes, der be-
kanntlich in den Anfängen der Rechtsgeschichte eine große Rolle spielt,
dann einer nahezu völligen Formlosigkeit Platz macht, um in späteren
Zeiten — man denke an das Grundbuch, den Notariatsakt und dergl. —
eine Art Auferstehung zu feiern. Aehnlich ist das Schicksal des abstrakten
Vertrages, der rechtlichen Behandlung irrtümlicher Willenserklärungen, der
Erfolghaftung (im Gegensatz zur Schuldhaftung) des jus cogens bei Vor-
trägen, der Gleichstellung der unehelichen mit den ehelichen Kindern, des
Anerben- und Erbbaurechtes und der Gesamthandverhältnisse. Als Grund
dieser Rückschläge führt der Verfasser in erster Linie die beschränkte Zahl
von Ausdrucksmitteln an, die der unbegrenzten Gedankenwelt entspreche;
darum sei das Formalgeschäft einmal der Ausdruck des poetischen Wohl-
gefallens an der sinnlichen Gestaltung ein anderes Mal Schutzmittel für
die Verkehrssicherheit, ein drittes Mal Wecker des juristischen Bewußt-
seins usw. Ein zweiter Grund (den man weniger einleuchtend finden wird)
soll in dem Einfluß der Philosophie auf die Rechtsbildung liegen: der
philosophische Skeptizismus der Gegenwart führe zu ganz ähnlichen Er-
gebnissen wie die Philosophielosigkeit, die in den Anfängen der Rechts-
bildung geherrscht hat. Der Verfasser scheint hiemit zu meinen, daß eine
Zeit, für die der Begriff der Schuld problematisch geworden ist, an der
Erfolghaftung ebensowenig Anstoß nehme, wie eine Zeit, die jenen Begriff
überhaupt noch nicht kennt. Ein dritter Grund sei in dem Kollektivismus
zu erblicken, den die Gegenwart mit der ältesten Vergangenheit teilt.
Damit hänge der vierte Grund dieser Rückschläge zusammen, den der Ver-
fasser in der Reaktion gegen die Rezeption des römischen Rechtes und in
der Wiederbelebung des in seinen wirtschaftlichen Tendenzen der Gegen-
wart so nahe stehenden deutschen Rechtes findet. Die Schrift zeichnet sich