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gehalten. Und seit dem frühen Mittelalter bildet sie, wenn auch
in verschiedenen Formen, fast regelmäßig einen Grundbestandteil
jeder Rechtslehre.
Bei Kant erreicht die Lehre vom Staatsvertrage ihren höch-
sten Gipfel; zugleich aber auch eine Ausdeutung, die, weil aus
dem Innersten der Kantischen Philosophie herrührend, alle
früheren Erklärungsversuche meilenweit hinter sich läßt. Grade
aber weil in diesem Punkte die organische Verknüpfung mit den
Grundlehren seines Systems evident ist, muß es von Wert sein,
auf die Orginalität Kants in der Auffassung des Sozialkon-
traktes hinzuweisen.
Eine Verteidigung ist nach zwei Seiten hin erforderlich.
Die Lehre geht in ihren Anfängen davon aus, daß in der
Vorzeit der Abschluß eines solchen Vertrages tatsächlich erfolgt
sei. Diese Auffassung des Sozialkontrakts als eines historischen
Faktums wird dann noch nicht verlassen, wenn in den Lehren
des Naturrechts zuweilen auch von einem anderen Entstehungs-
grunde mancher Staaten gesprochen wird. Nun wird aber be-
hauptetd, Andeutungen einer bloß ideellen Existenz des Ver-
trages hätten sich schon vor KANnT vorgefunden. Diese Be-
merkung kann allzuleicht irreführen. Es bedarf einer genauen
Fixierung, worin das ideelle Moment hier besteht.
Diejenigen nun, die GIERKE für seine Behauptung als Zeugen
anführt, BECMANN, KREITTMAYR und THOMASIDS, sind noch durch-
aus in der historischen Vorstellungsweise befangen. Lediglich
insofern wird der Vertrag ideell gedacht, als der tatsächliche
Abschluß in historischer Zeit zum Teil nur mehr fingiert wird.
So rechnet BECMANN® die translatio iurium in principem aut
rempublicam zu den Hypotheses Politicae, das sind
Praesumptae Notiones rerum in Vita Sociali non quidem exi-
5 GIERBKE, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrecht-
lichen Staatstheorien, 2. Ausgabe 121.
° Conspectus doctrinae politicae, (1689) cap. IV, 16.