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sie auch zur Kennzeichnung der Aufgaben des abstrakten Rechts
überhaupt und nicht ausschließlich zur Kennzeichnung des,prak-
tischen Verhaltens der an der Ausübung des Rechts Beteiligten
dienen könnte. Zu berücksichtigen ist allerdings der Zusammen-
hang, in dem PAULSEN diese Begriffsbestimmung ausgesprochen
hat. Er wollte beim Kapitel der geschlechtlichen Sittlichkeit
die Mängel und Unterlassungssünden unserer akademischen Bil-
dung zeigen, besonders inbezug auf Mediziner und Juristen !.
In diesem Rahmen schildert er den seit jeher starken Einfluß
des Juristenstandes auf die sittlichen Anschauungen des Volkes
und die namentlich vom Stuhle des Strafrichters ausgehenden
Sitten-bildenden oder Sitten-zerstörenden Wirkungen im Kampfe
gegen Perversität sowie unsittliche Schrift- und Kunstprodukte.
Man sieht, daß PAULSEN über eine Anregung hinsichtlich unseres
Gegenstandes nicht hinausgekommen ist.
Auch STERNBER& ? bietet in seiner Allgemeinen Rechtslehre
und in seiner KIRCHMANN-Biographie nur Ansätze zu unserem
Thema. Ihm ist, sicherlich mit Recht, der Beruf des praktischen
Juristen ein Beruf der Persönlichkeit. Als Aufgabe einer Ethik
des juristischen Berufes bezeichnet er die Untersuchung, wie man
die Persönlichkeit, den Charakter zur Entwicklung bringt, wobei
er betont, daß diejenige Tätigkeit, die am Ausbau und der Durch-
führung des ethischen Ideals im sozialen Leben zu arbeiten habe,
in ihrer Art und ihren Vertretern ganz auf der Höhe sein
müsse.
Nach einer zusammenfassenden Darstellung der juristischen
Ethik in Gestalt eines Systems werden wir in der deutschen
Literatur vergeblich suchen. Dies ist um so auffallender, als
ı PAULSEN, Zum Kapitel der geschlechtlichen Sittlichkeit, in der „Woche“
1908 S. 1 ff.
? THEODOR STERNBERG, Allgemeine Rechtslehre, Leipzig 1904, I, 203 ff. ;
derselbe, J. H. v. KiRCHMANN und seine Kritik der Rechtswissenschaft, Ber-
lin u. Leipzig 1908, S. 35.