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einen Prozeß oder sonst etwas zu suchen hat, etwas an Gelde oder Geldes-
wert, es habe Namen, wie es wolle, unter keinerlei Prätext weder selbst
anzunehmen, noch durch ihre Angehörigen, Dienstboten oder Andere an-
nehmen zu lassen; allen familiären Umgang und Verbindungen mit solchen
Parteien gänzlich zu vermeiden, und mit Einem Worte keine Rücksicht
oder Betrachtung in der Welt, es sei Menschenfurcht, Vorurteil des An-
sehens, Freundschaft, Feindschaft, Haß, Neid oder irgend sonst aus Leiden-
schaften, Privatinteresse oder anderen Nebenabsichten herfließende unlau-
tere Bewegungsgründe, sich von der genauen Beobachtung ihrer, Gott und
dem Staate, und der Justiz so teuer angelobten Pflichten abwendig machen
oder zurückhalten zu lassen.
Will man den Begriff der juristischen Ethik bestimmen, so
muß man davon ausgehen, daß sie ein spezieller Teil der allge-
meinen Ethik, der Lehre von den sittlichen Handlungen ist.
Man hat bestritten, daß es eine Ethik der einzelnen Berufe gebe;
vielmehr bestehe für jeden Menschen nur eine Ethik unab-
hängig von dem Berufe, dem er angehöre. Eine solche besondere
Berufsethik gibt es freilich nicht. Vielmehr kann es sich immer
nur darum handeln, die Harmonie zwischen den besonderen Be-
rufspflichten und den allgemeinen ethischen Pflichten herzustellen.
Die Eigenart eines Berufes kann seine Angehörigen in Lagen
bringen, die sie zu einem anderen Handeln nötigen, als die
außerhalb des Berufes Stehenden. Ein Beispiel für den Kon-
flikt zwischen einer Berufspflicht und einer allgemeinen sittlichen
Pflicht bietet die Anekdote vom russischen Grenadier, der einen
Bettler von der Pforte nahe dem Kreml verjagte, deshalb von
dem vorübergehenden mildherzigen ToLsToI zur Rede gestellt
und nach den Vorschriften des Evangeliums gefragt dem Dichter-
philosophen mit der Gegenfage antwortete, ob er denn das Kriegs-
reglement kenne. Freilich ist die Entscheidung in diesem Falle
nicht schwer: die allgemeine oder werktätige Liebe, die die Unter-
stützung des Bettlers gebietet, muß der Gehorsamspflicht des
Soldaten, ohne die das Staatsganze nicht bestehen könnte, un-
bedingt weichen. MoLL bringt in seiner „Aerztlichen Ethik“ ein
gerade uns interessierendes Beispiel: die Stellung des Staatsan-