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rem die Lehre von den Tugenden und Pflichten abgeleitet wird,
bei SOKRATES, dem Begründer der wissenschaftlichen Ethik über-
haupt, eine Art von Erkenntnis, bei KAnT das rein formale
Vernunftgesetz, bei SCHOPENHAUER das metaphysisch begründete
Mitleid, bei BENTHAM, dem Vertreter des Utilitarismus, der
Nutzen als Vereinigung aus den Prinzipien des Wohlwollens und
der vernünftigen Selbstliebe.. Angesichts dieser verschiedenen,
teilweise im Widerspruche miteinander stehenden Prinzipien
könnte es scheinen, daß die juristische Ethik, je nachdem sie
sich dem einen oder anderen ethischen System anschließt, in-
haltlich zu ganz verschiedenen Ergebnissen kommen wird. Dem
ist jedoch nicht so. Denn es ist eine oft hervorgehobene Tat-
sache, daß trotz aller Verschiedenheit ın der Begründung der
Ethik die eine weitere Ausführung des Grundprinzips der Ethik
darstellende Tugend- und Pflichtenlehre oder Lehre von der
Sittlichkeit im engeren Sinne, auf die es für uns hier ganz be-
sonders ankommt, bei fast allen Denkern im wesentlichen in-
haltlich übereinstimmt und Abweichungen fast nur inbetreff der
logischen Begriffsbestimmungen zeigt’. Als Kardinaltugenden,
d. h. wichtigste ethische Tugenden und Grundlagen aller übrigen
Tugenden, hat PLATo diese vier aufgestellt: Weisheit, Tapfer-
keit, Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit. Hierzu kommt je-
doch noch als fünfte Kardinaltugend, die wir weder bei PLATo
noch bei ARISTOTELES finden, die überhaupt dem Altertum fremd
war und erst vom Christentum als die Tugend bezeichnet wor-
den ist: die Barmherzigkeit d. h. allgemeine oder werktätige
Liebe. Die übrigen Tugenden werden von den eben genannten
abgeleitet und zwar entweder von einer bestimmten oder in zu-
sammengesetzter Weise von der einen und der anderen, wie z. B.
die Wahrhaftigkeit von der Gerechtigkeit und der allgemeinen
oder werktätigen Liebe. So gelangt man zu einer ganzen Reihe
5 WILHELM STERN, Kritische Grundlegung der Ethik als positiver
Wissenschaft, Berlin 1897, S. 380.