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von Tugenden und Pflichten, wie sie z. B. in GELLERTs Mora-
lischen Vorlesungen oder in Kants Metaphysik der Sitten
{Zweiter Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre)
einzeln behandelt sind. Ueber das Verhältnis von Tugenden
und Pflichten ist zu sagen, daß die Lehre von beiden inhaltlich
übereinstimmt, sich aber durch die Darstellungsweise unterschei-
det, indem die Pflichtenlehre die Verhaltungsweisen in Form von
Forderungen (Imperativen) aufstellt (vergl. PAULSEN, System der
Ethik, Bd. II (3. Aufl), S. 3). Alle diese Tugenden und Pflich-
ten allgemeiner Art, die für Jedermann den Wegweiser des
sittlichen Handelns bilden, und zwar vor allem anderen,
das sich aus seinen besonderen Verhältnissen, insbesondere seinem
Berufe, ergibt, scheiden eben deshalb aus einer systematischen
Darstellung einer durch das Spezifische des betreffenden Berufes
gekennzeichneten Ethik aus. Niemals seinem Gewissen ent-
gegenzuhandeln, was die ägyptischen Könige die Richter ihres
Landes aufs feierlichste beschwören ließen, muß jedermann, wie
MoNnTAIGNE (Essays III, 1) mit Recht betont, sich selbst zuge-
schworen haben. Aus demselben Grunde gebührt der Tugend
und Pflicht der Gerechtigkeit auch keine besondere Stelle im
System der juristischen Ethik. Noch mehr gilt dies von allen
durch das Gesetz festgelegten Vorschriften, wie z. B. dem Verbot
der Körperverletzung, der Unterschlagung, aber auch den Ge-
boten des Zivilrechts. Denn das Recht kann man nach dem
vielzitierten Ausspruch JELLINEKsS als das ethische Minimum
bezeichnen. Wie steht es nun aber mit den Vorschriften, die
wir als besondere Berufspflichten, wie beim beamteten Juristen
die Dienstpflicht, die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit, die
Pflicht zu einem standesgemäßen Lebenswandel zu bezeichnen
pflegen und die im Disziplinarrecht kodifiziert sind? An sich
gehört auch die Erfüllung dieser Pflichten dem freien Handeln
des einzelnen Individuums als Mitgliedes des Berufes d.h.
dem Gebiete der Ethik an. LABAND, der das Staatsdiener-
Archiv des öffentlichen Rechts. XXVIII 2/8. 21