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Allerdings wollen manche Denker das hier behandelte Verhalten
nicht in das Gebiet des Ethischen rechnen, sondern es in den
Bereich des Aesthetischen verweisen, also für ethisch indifferent
erklären. Zugegeben, daß dies richtig wäre, so darf doch nicht
vergessen werden, daß dieses Verhalten sofort ethisch different
wird d. h. also hier unsittlich, sobald durch ein derartiges Handeln
der Staat, das Publikum oder die Standesgenossen verletzt werden.
Auch nach der Seite der Kriminalpsychologie oder besser
der gerichtlichen Psychologie, von der die erstere nur einen Teil
darstellt, ist die juristische Ethik abzugrenzen. Die gerichtliche
Psychologie kann, soweit man Praktisches sucht, zu einem rich-
tigen Verfahren des Richters z. B. bei der Würdigung von
Zeugenaussagen, der Glaubwürdigkeit der Parteien oder des An-
geklagten, der Verstattung zum Parteieide führen, die Ethik hin-
gegen zu richtigem Benehmen oder Verhalten auf dem (Gebiete
der Rechtspflege oder des ausübenden Rechts gegen Staat, Pu-
blikum, Standesgenossen, Vorgesetzte usw. Verfahren und Be-
nehmen, beides dem Gebiete des Handelns angehörend, berühren
sich oft. Man denke an den Fall, daß ein Richter zur Ueber-
führung eines Beschuldigten ihm das Geständnis eines Mit-
schuldigen vorspiegeln würde, ein Verhalten, das vom sittlichen
Standpunkte aus zu mißbilligen ist.
Erhebliche Schwierigkeiten, an denen der Systematiker der
juristischen Ethik nicht wird vorübergehen können, macht die
Abgrenzung der Begriffe Sittlichkeit (Moral) und Sitte, aus der
sich wiederum das Schickliche, die Etikette heraushebt und zu
einer Sonderung der eigentlichen Berufs- von den Standespflichten
führt. (Vgl. MoıL, a. a. O. S. 17 und 360). Imerine hat auf
dem Felde der Sitte schwere Arbeit verrichtet. Er hat als erster
die Sondernatur und Bedeutung der Sitte, dieses „Stiefkindes
der Ethik“, in das, rechte Licht gerückt. Drei charakteristische
Züge der Sitte werden von ihm aufgestellt: ihre innere Ver-
schiedenheit von der Moral, ihre prophylaktische Bedeutung, ihre