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strikte Lösung jedes einzelnen sich aus dem Berufe ergebenden
Pflichtenkonflikts enthalten können, so doch Anhaltspunkte und
Richtlinien allgemeinerer Art, aus denen sich unter Berücksich-
tigung der konkreten Umstände die Entscheidung des besonderen
Falles ableiten lassen wird. Ihre allgemeine Bedeutung wird
eine systematische Darstellung der juristischen Ethik darin fin-
den, daß sie den Berufsgenossen die hohen Aufgaben ihres Be-
rufes vor Augen führt, die Liebe zu ihm stärkt und das Bewußt-
sein wach erhält, daß die Hochschätzung der Justiz und das
Vertrauen der Allgemeinheit zu ihren Dienern, die beide nicht
zum geringsten Teile von deren Verhalten abhängen, notwendig
sind, um den Zweck der Rechtspflege voll zu erfüllen.
Die Kenntnis der praktischen Seite des Juristenberufs ist
Voraussetzung für das Verständnis der Regeln über das Ver-
halten und die Pflichten, die den Inhalt der juristischen Ethik
ausmachen. Daher erscheint die Universität, die theoretische
Kenntnisse vermitteln, aber nicht die Vorschule praktischer Be-
rufe sein soll, nicht als der rechte Ort für die Unterweisung in
der juristischen Ethik. Vielmehr fällt diese Aufgabe nach dem
heutigen Gange unserer juristischen Vorbildung den Lehrern
der Praxis und zwar jedem für sein Spezialgebiet d. h. als
Richter, Staatsanwalt, Advokat zu, wobei eine zusammenfassende
Darstellung am Schlusse des praktischen Vorbereitungsdienstes
als ein wünschenswertes Ziel ins Auge gefaßt werden mag. Bei-
spiele, deren die juristische Ethik nicht wird entbehren können,
erwachsen ihr zahlreich aus dem deutschen Juristenstande, dem
es zu keiner Zeit an vorbildlichen Persönlichkeiten auf dem
Gebiete der Berufsethik gefehlt hat. So würde sie gleichzeitig
dazu beitragen, das in der Gegenwart darniederliegende, im 18:
Jahrhundert so rege gewesene Interesse für Juristen-Biographien
neu zu beleben und auch auf diese Weise namentlich an der
juristischen Jugend ihre erzieherische Wirkung üben.
Archiv des öffentlichen Rechts. XXVIII 2/8. 22