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Il.
Den Eindruck, den die Rechtssatztheorien auf den praktischen Juristen
machen, kann man dahin kennzeichnen, daß sie immer nur eine Seite
des Rechtssatzes entwickeln, ohne sein Wesen zu erschöpfen und daß
aus diesem Grund der knappen Synthese eine breite Analyse angefügt
werden muß, um der Gefahr naheliegender Mißverständnisse zu entgehen.
Jene der Tautologie hat noch keine Rechtssatztheorie vermieden. Auch
in der Lehre KELSENs wird sie nicht einmal verdeckt, wenn er vom Aus-
sprechen des Rechtssatzes in der Rechtsordnung, von Unrechtsfolge,
von der Rechtspflicht des Staates zu handeln spricht und wenn man
bedenkt, daß vom Standpunkt des Rechtsstaates, von dem die Lehre KeL-
SENs abgenommen ist, dem Willen des Staates, zu strafen oder zu exe-
quieren, der Beisatz „in den Formen oder den Mitteln des Rechtes“ °® hinzu-
gefügt werden muß. Ist aber einmal die Tautologie erlaubt, dann gestattet
die Auffassung des Rechtssatzes als des vom Staate aufgestellten Maßstabes
für die Gewinnung von Urteilen darüber, was Recht und was Unrecht ist,
die Einschließung von Phänomenen ausgesprochen juristischer Natur, die bei
der allgemeinen Auffassung von Exekution und Strafe außerhalb des Rah-
mens juristischer Betrachtung fallen müßten. Der Staat reagiert eben zu-
weilen gegen das Unrecht ausschließlich dadurch, daß er den Verstoß gegen
den von ibm aufgestellten Sollsatz lediglich durch dessen Aufstellung ein
für allemal als Unrecht erklärt, ihm das Anathema anhängt und sich auf
seine Autorität®, auf die Wirkung von Abhängigkeitsverhältnissen ver-
läßt”, ganz wie das Judenrecht des Wechsels sich auf das Abhängigkeits-
verhältnis des Kredits verließ.
Zuweilen beschränkt sich seine Reaktion auch im Einzelfall auf Fest-
stellung des Verstoßes gegen den Rechtssatz®. Zuweilen könnte schon
meinung nicht recht zum Worte gekommen, wenn KELSEN die klassische
Abhandlung STOERKs, Zur Methodik des öffentlichen Rechts im 12. Bd. der
GRÜNHUTschen Zeitschrift 8. 80 fl. gänzlich übergeht!
5 Tezwers Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens (1886)
S. 408, 436 ff. Art. 11 des österr. Staatsgrundgesetzes über die Regierungs-
und Vollzugsgewalt: „Besondere Gesetze regeln das Exekutionsrecht der
Verwaltungsbehörden“.
6 Vgl. KELSEN a. 8. O., S. 15.
? Den staatlichen Behörden Oesterreichs steht gegenüber der nationalen
Gründen entspringenden Rechtsverweigerung der „autonomen“ Landesaus-
schüsse — vgl. die Fälle bei Tnzwer, das detournement de pouvoir und
die deutsche Rechtsbeschwerde, Jahrbuch für öffentliches Recht 1911, S. 114
— kaum ein andres Reaktionsmittel zu.
8 Gegen Ueberschreitungen des elterlichen Züchtigungsrechts reagiert
das österr. Recht nur mit Rüge und Abnahme der Kinder. Nach $ 35 des