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Bürgers eingreifen. Diese Verfassungsgerichtsbarkeit erfüllt damit zweifel-
los Aufgaben, die in Deutschland den Verwaltungsgerichten übertragen
sind. Aber das Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit ist viel enger als das
der eigentlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Beurteilung von Rechts-
verletzungen, die von eidgenössischen Behörden begangen werden, fälltnämlich
ebensowenig in die bundesgerichtliche Zuständigkeit, wie die Kontrolle über
die Auslegung des kantonalen Gesetzesrechtes (im Gegensatz zu dem Ver-
fassungsrecht). So bedeutungsvoll auch die Verfassungsgerichtsbarkeit des
Bundesgerichtes für die Schweiz ist, so bietet sie doch keinen Ersatz für
eine normale Verwaltungsrechtspflege.
Die Einsicht, daß nach dieser Richtung die Rechtsschutzeinrichtungen
eine Lücke aufweisen, hat sich in der Schweiz in den beiden letzten Jahr-
zehnten in steigendem Maße Bahn gebrochen. Der kantonale Gesetzgeber
ist auch hier, wie auf so vielen andern Gebieten, dem Bundesgesetzgeber
mit dem guten Beispiel vorangegangen. Der Verfasser der vorliegenden
lehrreichen Schrift hat das weitschichtige und zerstörte Material mit Um-
sicht gesammelt und den Stoff übersichtlich gruppiert. Er zeigt, wie die
kantonale Gesetzgebung zunächst im allgemeinen einen Rechtsschutz auf
dem Gebiete des Verwaltungsrechts durch die Zuweisung bestimmter Arten
von Verwaltungsstreitsachen an die ordentlichen Gerichte hergestellt hat
und wie sie dabei ähnlich zu Werke gegangen ist, wie die reichsdeutschen
Gesetze über die „Erweiterungen des Rechtswegs“. Eine Weiterbildung hat
sodann das Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege für den Kanton Basel-
Stadt, vom 9. März 1905, gebracht. Er hat das kantonale Appellationsge-
richt, die ordentliche Berufsinstanz für Zivil- und Strafsachen, gleichzeitig
zum kantonalen Verwaltungsgericht gemacht und ihm, nach der Enumerations-
methode, eine ganze Reihe von Verwaltungsstreitsachen zugeschieden. Ebenso
hat durch Gesetz vom 31. Oktober 1909 der Kanton Bern für seinen Be-
reich ein eigenes Verwaltungsgericht gegründet und das Verwaltungsstreit-
verfahren vor den Verwaltungsbehörden neu geordnet. Der Bundesgesetz-
geber dagegen ist bis heute in seiner Passivität verharrt. Die Schwierig-
keit liegt hier auf dem organisatorischen Gebiet. Der Bund besitzt keine
selbständig verfügenden Mittelinstanzen in seiner Verwaltungsorganisation.
Der Bundesrat ist seit dem Jahre 1848 die Bundesverwaltungsbehörde ge-
blieben ; er hat alle Sachen der Zentralverwaltung kollegialiter zu besorgen.
Der — an eine außerordentliche Machtvollkommenheit gewöhnte — Bundes-
rat hat sich aber bis heute dagegen gewehrt, der Kontrolle eines Verwal-
tungsgerichts unterstellt zu werden. Die Einführung einer unabhängigen
Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bund bedingt daher eine Dezentralisation
der Bundesverwaltung, und mit JENNY wünschen wir, daß die Erfüllung
dieses pium desiderium nicht ad calendas Graecas vertagt werde.
Heidelberg. F. Fleiner.
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