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Beide Referenten sprachen sich in dem Sinne aus, daß die rus-
sische Gesetzgebung völlige Freiheit der Meinungsäußerung, d.h.
Unverantwortlichkeit im engen Sinne des Wortes anerkennt.
Sodann ist in den September-, Oktober- und Novemberheften
des „Journal des Justizministeriums“ ein umfangreicher Artikel
A. von RaIson’s erschienen, in welchem der Verfasser zu diametral
entgegengesetzten Schlüssen gelangt ?.
Folglich muß die Frage auch jetzt noch als streitig gelten.
Doch unterliegt die praktische Bedeutung derselben keinem Zwei-
fel, sowohl wegen des lebhaften Temperaments der russischen
Abgeordneten, als auch der äußerst gespannten Beziehungen
zwischen der Regierung und den Öppositionsparteien. Die fol-
genden Zeilen haben den Zweck, die Frage mit möglichster Unpar-
teilichkeit von der rein juristischen Seite zu beleuchten.
Il.
Erstens ist genau festzustellen, worin die sogenannte ratio
dubitandi besteht.
Wie wir gesehen haben, sind im ÖOrganisationsgesetz der
Reichsduma zwei Artikel vorhanden, die als sich gegenseitig
ausschließend oder zum mindesten miteinander kollidierend auf-
gefaßt werden können. Dieses sind Art. 14 und 22. Doch
ist eine derartige Auffassung derselben nicht unbedingt not-
wendig. Falls man auf Grund dieser oder jener Erwägungen
anerkannt hat, daß der erste dieser Artikel das Prinzip der Un-
verantwortlichkeit der Abgeordneten legalisiert, so kann und
muß daraus der Schluß gezogen werden, daß Art. 22 keine Wort-
delikte betrifft, sondern sich bloß auf andere verbrecherische
Handlungen bezieht, die von Abgeordneten bei der Ausübung
abdruck unter dem Titel „Ueber die Unverantwortlichkeit der Volksver-
treter“, Jaroslaw 1909, erschienen.
% „Ueber die besonderen Vorrechte der gewählten Mitglieder des Reichs-
rates und der Mitglieder der Reichsduma.“ Wir zitieren nach dem Separat-
abdruck, St. Petersburg 1909.