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gen des Gesetzes nicht als Sanktionierung der Unverantwortlich-
keit interpretiert werden. Wie die politischen und rechtlichen
Grundlagen der Redefreiheit auch wären — bei dieser Frage
können wir uns hier nicht aufhalten —, so ist es doch zweifel-
los, daß dieses Institut nicht als etwas mit logischer Notwendig-
keit aus der Prämisse einer repräsentativen Staatsordnung Fol-
gendes angesehen werden kann. Jedoch kommt Art. 14 des
Organisationsgesetzes der Reichsduma einem Schweigen des Ge-
setzes keineswegs gleich. Das Prinzip der Redefreiheit findet
in ihm einen ganz bestimmten Ausdruck. Es fragt sich nur,
ob dieses Prinzip mit der Unverantwortlichkeit identisch sei
oder nicht.
Zu Gunsten der ersten Annahme sprechen Erwägungen
zweierlei Art.
Erstens ist der Umstand in Betracht zu ziehen, daß über-
haupt die rechtliche Stellung der Volksvertreter vonseiten der
russischen Gesetzgebung ganz nach allgemein konstitutionellem
Muster konstruiert wird.
So genießen die Abgeordneten, laut Art. 16 des Organisa-
tionsgesetzes der Reichsduma (Art. 27 des Organisationsgesetzes
des Reichsrates) sog. außerberufliche Immunität, d.h. können
während der Tagung der Kammern nicht anders als mit Einwilli-
gung derjenigen, deren Mitglied sie sind, einer Verhaftung unter-
zogen werden. Dieses Vorrecht erscheint überall als ein steter Beglei-
ter repräsentativer Staatsordnungen, was schon a priori eine Prä-
sumption zu Gunsten dessen hervorruft, daß auch das zweite ge-
keit nicht speziell erwähnt, dasselbe, als aus dem Prinzip der Volkssou-
veränität emanierend, doch die Abgeordneten deckt. (Vergl. seine Abhand-
lung im „Archiv f. zivilistische Praxis“ 1834, XVIIL 8. 173 ff.) Die Unhalt-
barkeit dieses Standpunktes hat schon GERAU im Jahre 1854 („Zeitschrift
f. Zivilrecht und Prozeß“ N. F., B. I) nachgewiesen. Ueber die Stellung
dieser Frage in Frankreich, wo das Dogma von der Volkssouveränität noch
immer die Rolle eines der wichtigsten staatlichen Grundpfeiler spielt, siehe
meine Abhandlung „Unverantwortlichkeit und Immunität der Deputierten
in Frankreich“ (russisch), Jurjew 1910, S. 6f., S. 77 ft.