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Ansicht nach ist der Ausdruck „bei der Ausübung oder aus
Anlaß der Ausübung von Pflichten begangene Delikte“ umfas-
sender als der Terminus „Amtsdelikte“. Infolgedessen alle De-
likte, die von Abgeordneten bei oder aus Anlaß der Ausübung
ihrer Pflichten begangen werden, nicht aber bloß die im Ab-
schnitt V des Strafgesetzbuches genannten, dem Artikel 22 des
Organisationsgesetzes der Reichsduma unterliegen. Daraus folgt,
daß auch solche Wortdelikte, welche keine amtlichen Rechts-
verletzungen vorstellen, z. B. Verleumdung, dem obersten Krimi-
nalgericht unterstehen *°.
Eine derartige Interpretation führt jedoch zu absolut unan-
nehmbaren Resultaten. Abgesehen vom Art. 1076 der Straf-
prozeßordnung (Fortsetzung 1906), welcher ihr direkt wider-
spricht, ist auch der Umstand in Betracht zu ziehen, daß die in
den Art. 87—95 des ÖOrganisationsgesetzes des Reichsrates
dargelegte Ordnung auf Sachen, die im Wege einer Privat-
klage entstehen, überhaupt nicht anwendbar ist. Nach dem
Art 5ll der Strafprozeßordnung werden derartige Sachen nicht
der Aufsicht des Staatsanwaltes entzogen, wenn durch die Unter-
suchung der Tatbestand einer verbrecherischen Handlung fest-
gestellt ist, welche einer Verfolgung von Amts wegen unterliegt.
Falls jedoch als Objekt der Untersuchung sich eine verbrecherische
Handlung erweist, die im Privatwege verfolgt wird, so beschränkt
45 Dieser Standpunkt, konsequent durchgeführt, bringt einen dahin, daß
beinah ein jedes, während der Kammersitzungen oder aus Anlaß der De-
batten usw. verübtes Delikt unter Art. 22 fällt. So wären z. B. hierher zu
rechnen Fälle von Verletzungen oder Totschlag, deren sich Abgeordnete
in der Hitze der Debatten schuldig gemacht hätten, — eine Voraussetzung,
die nichts Unwahrscheinliches an sich hat, wenn man die Exzesse in Betracht
zieht, welche sich einige Mitglieder der Reichsduma in derselben erlaubt
haben (das Werfen eines Wasserglases nach seinem Gegner usw.). Ebenso
müßte ein durch irgend einen Vorfall in der Reichsduma hervorgerufenes
Duell der Kompetenz des Obersten Kriminalgerichts unterstehen. Die Praxis
teilt jedoch diesen Standpunkt nicht und alle bis jetzt entstandenen Duell-
sachen sind im gewöhnlichen Wege entschieden worden.