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des Verfassers dem Art. 22 auf jeden Fall den Sinn einer auch
Wortdelikte der Volksvertreter umfassenden Bestimmung zu geben,
dem Art. 14 dagegen jeglichen realen Inhalt zu nehmen. In-
dessen ist gerade der Art. 14 streitig, weshalb er auch absolut
nicht den Sinn des Art. 22 vorauszubestimmen vermag.
Auf diese Weise müssen wir es als festgestellt ansehen,
daß der Art. 22 ausschließlich Amtsdelikte betrifft und daß die
in den Art. 87—95 des Örganisationsgesetzes des Reichsrates
dargelegte Ordnung Handlungen gegenüber nicht anwendbar ist,
welche im Privatwege verfolgt werden. In praxi könnten von
Wortdelikten nur Beleidigungen (Strafgesetzbuch, Art. 447) unter
den Art. 22 fallen, da sie das einzige amtliche Verbrechen bil-
den, welches mit Hilfe des Wortes begangen werden kann. Alle
anderen Rechtsverletzungen könnten nur von Amts wegen einer
Verfolgung unterliegen.
Außer dem Gesagten ist noch der Umstand zu beachten,
daß wenn der Art. 22 auch nicht amtliche — stricto sensu —
Verbrechen, umfassen sollte (mit Ausschluß der privaten) es
unklar wäre, wem es obliege, dem Monarchen wegen solcher
gesetzwidriger Handlungen Bericht zu erstatten. In seinem
Briefe vom 25. Februar 1909 an das Mitglied der Reichsduma
Wjasigin sprach sich der Justizminister kategorisch dahin
aus, „daß es ihm nicht zukomme, zu bestimmen, ob in den Hand-
lungen der Mitglieder der Reichsduma bei oder aus Anlaß der
Ausübung ihrer Pflichten Anzeichen eines Deliktes vorhanden
sind oder nicht“ *®, Dasselbe kann von sich auch jeder Minister
und überhaupt jede Amtsperson sagen, da das Gesetz keinem
von ihnen die Verpflichtung auferlegt, die professionelle Tätig-
keit der Abgeordneten zu beaufsichtigen und noch weniger die
Rolle von Zensoren ihrer Reden, Deklarationen, Abstimmungen
usw. zu spielen.
ı „Nowoe Wremja“ 26. Febr. 1909, No. 11 839.