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einzelner Fälle zu bewerten sind, und daß eine geläuterte rechtsethische
Betrachtung die Forderung der Rechtssicherheit nicht von sich weisen
kann. Die Verwertung des von H. RıiCKERT herausgearbeiteten Gegensatzes
von generalisierender und individualisierender Anschauungsweise dürfte
auch hier zu richtiger Einsicht führen.
WULFFENS Darlegungen münden aus in Postulate de lege ferenda.
Hierbei bekennt sich WULFFEN als radikaler Gegner unseres heutigen auf
der Schuld- und Vergeltungsidee basierenden Strafrechts. „Da das Unsitt-
liche sich nicht unter mathematische und arithmetische Begriffe (!!) bringen
läßt“, ist „das bestimmte Strafurteil niemals zu begründen“ (II, 523). Un-
bestimmte Strafurteile und, da diese ja in der Tat nicht mehr strafrecht-
lichen Charakter tragen, also das Strafrecht durch ein „Sicherungsrecht“
ersetzt werden muß, bloße „Schutzmaßnahmen“, die in einem „Schutzver-
fahren® zu verhängen und im „Sicherungsvollzug‘ durchzuführen sind,
lautet WULFFENS Losung; seine Prophezeiung aber (siehe seine Schluß-
worte: „Ueberall Zeichen ‘und Wunder“ etc.): vor der reinen Sicherungs-
maßnahme wird das Vergeltungsstrafrecht künftig völlig das Feld räumen
müssen. Ich verzichte gern auf eine Gegenprophezeiung, umso lieber, als
ich in meiner „Unbestimmten Verurteilung“ (1909) die Gründe dargelegt
habe, welche die Verwirklichung solcher extremen Forderungen als außer-
halb der realen gesetzgeberischen Möglichkeit liegend erscheinen lassen,
und möchte hier nur noch gegenüber der in neuester Zeit mehrfach ver-
tretenen Auffassung, als ob dem Streit: hie Vergeltungsstrafe — hie
Sicherungsstrafe der (angebliche) Gegen satz einer überindividualistischen und
einer individualistischen Staats- und Rechtsauffassung zugrunde liege und
somit der Kampf der Strafrechtsschulen ins staatsphilosophische Gebiet zu
verlegen sei, an die Worte HEINRICH v. TREITSCHKES (Politik, I, 67) erinnern:
„Solange über den Staat gedacht worden ist, ist alle Welt einig gewesen,
daß sowohl der Staat Rechte und Pflichten habe gegenüber seinen Bürgern,
wie der Bürger Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat. Wesen aber,
die durch gegenseitige Rechte und Pflichten verbunden sind, können sich
unmöglich zu einander verhalten wie Mittel und Zweck. Das Mittel ist ja
nur um des Zwecks willen da, von einer Gegenseitigkeit zwischen beiden
kann gar nicht die Rede sein... Das ist gerade die Größe des Staats, daß er
die Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft verbindet; folglich hat der
Einzelne nicht das Recht, im Staat ein Mittel für seine Lebenszwecke zu
sehen. Es besteht für den einzelnen Menschen die sittliche Pflicht und
die physische Notwendigkeit, sich einem Staat unterzuordnen, für den
Staat dagegen die Pflicht, stützend und fördernd in das Leben der Bürger
einzugreifen.“ Aug. Schoetensack-Würzburg.