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nehmen, die dazu führten, daß die Russische Regierung die Tagung beider
Häuser zum Zwecke des Erlasses der Notverordnung vom 14. März 1911
über die Einführung der Semstwo in den Westgouvernements auf kurze
Zeit unterbrach, weil diese Freignisse nach Erscheinen der betreffenden
Publikationen fielen. Allerdings ist die Stellungnahme beider Schriftsteller
auch ohnedem gegeben. Denn PALME folgert (S. 158) aus dein Sinne des
Art. 87, daß die außerordentlichen Umstände, deretwegen der Erlaß einer
Notverordnung erfolgen kann, erst während der Zeit, in der die Duma nicht
tagt, eingetreten sein müssen. Nach PALME ist es also zweifellos unzulässig,
daß die Regierung zum Zwecke der Durchführung bestimmter Maßregeln.
die sie durch außerordentliche Umstände für geboten hält, das Parlament
schließt, weil dieses ablehnt, die Maßregel im Gesetzgebungswege einzuführen.
Die Mehrzahl westeuropäischer Theoretiker würde wahrscheinlich geneigt
sein, sich auf denselben Standpunkt zu stellen. Baron Norpe billigt ihn
nicht. Er findet (S. 45) daß im russischen Gesetz nur die Vorbedingung
ausgesprochen ist, daß die außerordentlichen Umstände zur Zeit des Er-
lasses vorhanden sein müssen, was also nicht ausschließt, daß sie schon
vorher da waren. Ueber die Auflösung der Kammern zum Zwecke des
Erlasses von Notverordnungen sagt NOLDE, er wäre bereit zuzugestehen,
daß ein solcher Akt politisch in der Tat eine Verletzung der Grundlagen
eines konstitutionellen Staates sein könne, der Jurist sei aber nicht berech-
tigt, eine solche Schlußfolgerung zu ziehen, denn in Ländern, wo es kein ver-
antwortliches parlamentarisches Ministerium gebe, habe der Monarch das un-
bedingte Recht, das Parlament aufzulösen, und niemand sei befugt, dieses
Recht und die Motive dazu einer Kritik zu unterwerfen. Ich kann dem von
mir sehr verehrten Schriftsteller hier nicht ganz beitreten. Mir will es
vielmehr scheinen, als ob er das Hauptgewicht unter einer Umstellung des
Problems auf die kaum bestrittene Rechtsgiltigkeit des Akts der Parlaments-
auflösung anstatt auf die Rechtsgiltigkeit der Notverordnung legt. Und
dann, gibt es politische Verfassungsverletzungen, die nicht zugleich juri-
stische sind und umgekehrt? Heißt es nicht, die Jurisprudenz allzusehr
zu einer rein buchstabenmäßigen Auslegungskunst machen, wenn man der-
artige Unterschiede konstruiert? — In seinem jüngst erschienenen Werke über
„das Staatsrecht des russischen Reiches“ (Bd. XVII des öfftl. Rechts der Gegen-
wart) referiert GRIBOWSKI die Streitfrage (S. 48—49), doch scheint es, daß
er PALME falsch verstanden hat, wenn er sagt: „So behauptet z. B. PALME,
daß die Anwendung des Art. 87 nur dann stattfinden kann, wenn die Reichs-
duma nicht tagt... Dagegen meint der russische Gelehrte Baron NOLDE,
daß die Anwendung des betreffenden Artikels auch vor der Beendigung der
Dumasession möglich ist.* — PALME kommentiert vielmehr die Worte des
Art. 87 „Während des Aufhörens der Arbeiten der Reichsduma“ wie folgt:
„Die Arbeiten hören im Sinne des Art. 87 auf, wenn dies durch kaiser-
liche Verordnung (Art. 98 und 99) angeordnet wird... Dagegen können