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Fragen wir nun, ob und inwieweit die besprochenen Prinzipien
praktisch angewandt worden sind, so finden wir, daß zwar im
Reiche die Gesetze, die in der Verfassung in Aussicht gestellt
waren, inzwischen bereits erlassen wurden, daß aber die preuß.
Verfassungsurkunde ein Gesetz angekündigt hat, das bis jetzt
noch nicht ergangen ist, nämlich das Patronatsgesetz (Art. 17)°.
Mehr als 60 Jahre sind bereits seit Einführung der preuß.
Verfassung ergangen, und diese Zeit reicht erfahrungsgemäß zur
Vorbereitung auch der schwierigsten und umfassendsten Gesetze
aus. Das Patronatsrecht dürfte aber nicht eine besonders schwierige
Materie sein, keinesfalls ist sie sehr umfangreich. Die Nicht-
erlassung des Gesetzes kann also mit derartigen Gründen nicht
in Zusammenhang gebracht werden, so daß nur die Annahme
übrig bleibt, daß Regierung bezw. Landtag seinen Erlaß nicht
wünschen. Ich kann nicht umhin, dies für verfassungswidrig zu
erklären.
Als die preußische Verfassung erging, war es den Autoren
derselben naturgemäß nicht möglich, alle Gesetzesgegenstände,
die den Anschauungen der Neuzeit entsprechend geändert werden
sollten, bereits in der Verfassung selbst zu regeln. Dazu hätte
man viele Jahre Zeit gebraucht. Man begnügte sich deshalb,
die allgemeinen Grundsätze dieser Materien festzusetzen oder doch
ergreifen, während die Kammern zu dem Zustandekommen des Gesetzes
das Ihrige beizutragen haben; es würde also verfassungswidrig sein, wenn
die Kammern den betr. von der Regierung eingebrachten Entwurf direkt
ablehnen würden; sie können dem Fintwurf vielmehr nur eine beliebige
Umgestaltung geben, die allerdings praktisch wegen ihrer Unan-
nehmbarkeit für die Regierung die gleiche Bedeutung wie eine glatte Ab-
lehnung haben kann.
® Ein Ministerverantwortlichkeitsgesetzz gemäß den in Art. 61 der
pr. Verf. aufgestellten Grundsätzen kann seit Erlaß der Reichsjustizgesetze
nicht mehr ergehen. Vgl. darüber die z. T. sehr treffenden Ausführungen
von BORNHAK, Preuß. Staatsrecht 1888 1. Bd. S. 144 ff. Uebrigens wurden
dem Landtage zweimal, 1850/51 und 1862, Entwürfe eines Ministerverant-
wortlichkeitsgesetzes vorgelegt. Das Gesetz kam aber nicht zustande.
BoRNHAK a. a. O. 8. 142.