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Wir erfahren im historischen Teile zunächst, wie der vorreformatorische
Gedanke der Einheit des Bekenntnisses im Territorium auch nach Einfüh-
rung der Reformation und nach Anerkennung der neuen Verhältnisse als
rechtlicher (1555) grundsätzlich beibehalten, allerdings, wie das Verhalten
des Landgrafen Philipp gegenüber den Wiedertäufern beweist, nicht immer
streng durchgeführt wird; wie dann in der Folgezeit die Reinheit der Lehre
schärfer überwacht wird, indem man z. B. von der durch den westfälischen
Frieden geschaffenen Möglichkeit, Andersgläubige zu dulden, keinen Ge-
brauch macht; wie später aber der Zuzug Andersgläubiger, die Verschie-
bungen der Bevölkerung und die wachsende Freizügigkeit immer stärker
zu Zugeständnissen an andere Konfessionen zwingen und schließlich zur
Preisgabe des Grundsatzes der Einheit der Lehre, zur Aufnahme von Ka-
tholiken, Reformierten, ja sogar Sekten führen; wie vollends unter der
Einwirkung der Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses die Durchfüh-
rung der Parität zwischen den drei reichsrechtlich anerkannten Konfessio-
nen erfolgt. Ihre gesetzliche Grundlage empfing die Neugestaltung jedoch
erst durch die deutsche Bundesakte und die hessische Verfassungsurkunde,
späterhin durch das der Bewegung von 1848 Rechnung tragende Gesetz vom
2. August 1848 über die religiöse Freiheit.
Die heutige Zuständigkeit Hessens zur Regelung der die Religions-
gemeinschaften betreffenden Fragen gründet sich auf den Vorbehalt, den
das Reichsvereinsgesetz zugunsten des Landesrechts macht. Die wichtigste
Quelle des geltenden Rechts ist das Gesetz, die rechtliche Stellung der
Kirchen- und Religionsgemeinschaften im Staate betr., vom 23. April 1875.
Der Verfasser stellt den diesem Gesetz zugrunde gelegten Begriff der Re-
ligionsgemeinschaft klar, erörtert die Form und die Voraussetzungen der
Neubildung von Religionsgemeinschaften, die rechtliche Qualifikation der
Religionsgemeinschaften (öffentliche Korporationen, Gemeinschaften mit
und ohne Korporationsrechte), endlich die staatliche Aufsicht und den staat-
lichen Schutz über die Religionsgemeinschaften.
Die auf archivalischen Quellenstudien beruhende Arbeit, eine gute
Gießener Dissertation, steht weit über dem Durchschnitt der Doktorschriften.
Sie entwirft uns ein anschauliches Bild der Entwicklung, welche die indi-
viduelle und gesellschaftliche Bekenntnisfreiheit in Hessen genommen hat.
Die Darstellung ist eine streng rechtshistorische und rechtsdogmatische;
Jede politische Abschweifung, aber auch Erörterungen de lege ferenda sind
vermieden. Die Schrift wird nicht nur der lokalen, sondern auch der all-
gemeinen kirchlichen Rechtsgeschichte als förderlicher Beitrag willkommen
sein.
Posen. Professor Dr. Friedr. Giese.