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sung der Rechtspflege selbst als einer Gesetz, Richter und Rechtsgenossen
ergreifenden Einheit bezeichnet wird.
Ausgehend von zehn wirklichen praktischen Rechtsfällen, von denen
neun als fertige Strafgerichtsurteile, der zehnte als wirklicher Aufbau einer
Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht wiedergegeben werden, ent-
wickelt der Verfasser eine Theorie der juristischen Deutung. Für die Ge-
winnung dieser Theorie der juristischen Interpretation der Tatsachen schließt
sich der Verfasser besonders an DiL’tHkY und HUSSERL an, indem er die
von den englischen Naturalisten weiter ausgebaute aristotelische Psycholo-
gie („Spiegelungstheorie*) mit ihrem Sensualismus und Naturalismus als
falsch und insbesondere verderblich für die Rechtswissenschaft als eine
Geisteswissenschaft ansieht, und an ihre Stelle die beschreibende Psycholo-
gie mit ihrem Begriff des Verstehens im Sinne DıLTHeys als der Eigenart
des Rechtsbetriebes in ganz anderer Weise entsprechend setzt. So kommt
nach dem Verfasser auch die Phantasie, das wichtigste psychologische Hilfs-
mittel für den Richter bei der Tatsachenfeststellung, zu ihrer rechten Gel-
tung, während eine nur intellektuelle Verarbeitung der Vorgänge weder
der Phantasie, noch dem Willens- und Gefühlsleben (Bewertungselement)
des Deutenden und damit dem schöpferischen Element bei der strafrichter-
lichen Tatsachenfeststellung gerecht werde. Diese subjektive Seite des
Deutens hat zur Voraussetzung eine objektive, die das zu deutende Ver-
halten in eine bestimmte objektive Situation einordnet. Der Zusammen-
hang zwischen beiden Seiten des juristischen Deutens ergibt sich durch die
Betonung des Zweckmoments: der Deutungszusammenhang ist ein Zweck-
zusammenhang.
Die Ausführungen über die tatsächlichen Feststellungen des das Ver-
bindungsglied zwischen objektivem Recht und realem Rechtsleben bilden-
den Strafrichters, dessen Art und Arbeit die bisherige Theorie ganz ig-
noriert habe, führen den Verfasser dahin, im zweiten Teile die seiner An-
sicht nach aus dieser Ausschaltung des Strafrichters sich ergebenden Män-
gel der Theorie namentlich bei der Formulierung der strafrechtlichen Grund-
begriffe zu erörtern und zwar in einer für diese vernichtenden Kritik unter
Verwerfung des herrschenden Strafrechtssystems im letzten Kapitel. An
Stelle des herrschenden Verbrechens- und Handlungsbegriffs (ZITELMANN
— v. Liszt) gibt der Verfasser folgende Definitionen: „Das Verbrechen ist
vom Standpunkt des Verbrechers und des erkennenden Richters, wie auch
von dem des diese Standpunkte in sich aufnehmenden Theoretikers ein der
Ordnung durch das Strafrecht bedürftiges praktisches Verhalten eines
Menschen, des Verbrechers.“ Oder: „Die einzelne strafbare Handlung ist
vom Standpunkte des Verbrechers aus ein eine mißfällige Beurteilung sei-
tens des Strafrechts und des Strafrichters herausforderndes praktisches
Verhalten. Vom Standpunkt des Strafrichters ist sie die nun erfolgende
mißfällige Beurteilung, die kritische Bewertung des eben gekennzeichneten