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ganze Recht umfassenden und auch die Errungenschaften der
älteren Schule nieht ignorierenden Rechtsquellentheorie werden.
JUNG geht an dem Umstand nicht achtlos vorüber, daß die Ver-
wirklichung radikaler Freirechtstheorien eine völlige Untergrabung
der Rechtssicherheit bedeuten würde und er ist darum bemüht,
soweit es seine Prämissen gestatten, das bestehende Recht auf
eine möglichst feste Grundlage zu stellen. Das positive, „regel-
hafte“ (Gesetzes- und Gewohnheits-) Recht gilt nach JUNG, weil
die Rechtsgenossen sich darauf verlassen, daß es verwirklicht
werde; die Abweichung von diesem Recht ist daber nur eine „ab-
norme*, eine „pathologische“ Erscheinung. Diese Theorie ist
durchaus neu. Meiner Ueberzeugung nach liegt ın diesem ge-
nialen Gedanken der Schwerpunkt und das Hauptverdienst des
Buches. Es bedarf wohl keiner langen Auseinandersetzungen dar-
über, daß mit JUNGs Auffassung gewissermaßen eine Brücke zwi-
schen der alten und der neuen Anschauung geschlagen ist. Die
Extremen in beiden Lagern werden allerdings die Mittelmeinung
unseres Autors schroff ablehnen. Die einen sehen gerade in dem-
jenigen ihr Ideal, was JUNG als pathologisch bezeichnet, die an-
deren haben nichts als ein sittliches oder logisches Verdammungs-
urteil für alle Abweichungen vom regelhaften Recht und wollen
nicht zulassen, daß eine Wissenschaft, die uns das Abnorme, das
Krankhafte zu erklären bemüht ıst, über das bloße Erklären hin-
ausgehe und Schlußfolgerungen ziehe, welche die Autorität jenes
Verdammungsurteils erschüttern. Aber trotz der Angriffe gegen
JUNG, die von beiden Seiten zu erwarten sind, darf vielleicht die
Prophezeiung gewagt werden, daß das vorliegende Buch von
großem und bleibendem Einfluß sein wird.
Nach meiner Ueberzeugung sind beide Betrachtungsweisen
des Rechtes, die soziologische und die dogmatische, am Platze
und die Methode der Gesellschaftswissenschaften wie jene der
Normwissenschaften müssen beide herangezogen werden, um das
Recht in seiner Totalität zu erfassen. Denn, wie ich bereits in