Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 30 (30)

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ist seine Regel naturrechtlich. Denn wie anders soll man es auffassen, 
wenn er diese Regel als eine über dem Staat bestehende !! und diesen in 
seinen Gliedern bindende auffaßt? Nur daß man bei dem alten Naturrecht 
wenigstens, weil man es als unabänderlich auffaßte und der Ansicht war, 
jeder „vernünftig“ denkende Mensch müsse durch richtige logische Ge- 
dankenoperationen seine Sätze ermitteln können, für deren Feststellung 
eine einigermaßen objektive Basis hatte. Das fehlt aber hier völlig. 
Denn wir haben zwar als oberste, fast auf jeder Seite wiederholte Richt- 
schnur das Gebot: Handle so und nur so, wie es der Gesellschaft frommt, 
— aber statt uns dieses Gebot näher zu erläutern, sucht D. dadurch aus 
der Zwangslage, in die er sich selbst gebracht, herauszukommen, daß er es 
(S.18) als Rolle des Juristen bezeichnet, festzustellen, welche Rechts- 
regel „sich genau der Struktur einer gegebenen Gesellschaft anpasse“. Und 
indem er weiter diese Regel als variabel bezeichnet, und hierdurch sich 
gegen den Vorwurf, er sei Naturrechtler, zu verteidigen sucht, verwechselt 
er, scheint mir, ganz offensichtlich sie selbst und ihren Inhalt!?, denn die 
einzige Rechtsregel Duguits'?: „ne rien faire qui porte atteinte & la soli- 
darite sociale sous l’une de ses deux formes et faire tout ce qui est de 
nature & realiser et & developper la solidarite sociale mecanique et organi- 
que“ (S.17) ist unveränderlich — variabel und vom Juristen zu ermitteln 
ist nur ihr Inhalt. Aber diese Rückkehr zum Naturrecht wäre verzeihlich, 
würde D. mit seinem einzigen Satz und den aus ihm abzuleitenden Folge- 
rungen, aus denen sein Naturrecht besteht, nur eine Forderung an 
den Gesetzgeber aufstellen, dem tunlichst Anerkennung verschafft 
werden soll. Aber der französische Gelehrte geht weiter. Denn indem er 
eben nicht die tunlichste Anerkennung dieser Regel verlangt, sondern 
sie als feststehendes, objektives Recht hinstellt, dem sich jedes Individuum 
unterordnen müsse, gelangt er zu ganz ungeheuerlichen Konsequenzen für 
die Beurteilung staatlicher Willensakte. . . „Les declarations de volonte des 
gouvernants“ heißt es da (S. 88): „n’ont de valeur que dans la mesure oü 
elles sont conformes & la rögle de droit... . qui s’impose & tous les mem- 
bres d’une m&me societe, parce qu’elle est comme l’armature de cette 
  
>) 
115.54: „Nous persistons & croire que l’Etat est lie par un droit 
superieur & lui .. . .* 
ı2 Das tritt deutlich auf S. 164 zutage... . „le droit n’est pas un en- 
semble de principes absolus et immuables, mais au contraire un ensemble 
de regles changeantes, variables avec le temps.“ 
13 Daß er sie als solche auffaßt, ergibt sich, außer aus den bisherigen 
Zitaten, aus einer Stelle auf S. 17, die sich unmittelbar an die Inhaltsan- 
gabe der Regel anschließt: „Tout le droit objectifse resume en 
cette formule, et la loi positive pour ötre legitime, devra ätre l’expres- 
sion le developpement ou la mise en oeuvre de ce principe.“
	        
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