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ist seine Regel naturrechtlich. Denn wie anders soll man es auffassen,
wenn er diese Regel als eine über dem Staat bestehende !! und diesen in
seinen Gliedern bindende auffaßt? Nur daß man bei dem alten Naturrecht
wenigstens, weil man es als unabänderlich auffaßte und der Ansicht war,
jeder „vernünftig“ denkende Mensch müsse durch richtige logische Ge-
dankenoperationen seine Sätze ermitteln können, für deren Feststellung
eine einigermaßen objektive Basis hatte. Das fehlt aber hier völlig.
Denn wir haben zwar als oberste, fast auf jeder Seite wiederholte Richt-
schnur das Gebot: Handle so und nur so, wie es der Gesellschaft frommt,
— aber statt uns dieses Gebot näher zu erläutern, sucht D. dadurch aus
der Zwangslage, in die er sich selbst gebracht, herauszukommen, daß er es
(S.18) als Rolle des Juristen bezeichnet, festzustellen, welche Rechts-
regel „sich genau der Struktur einer gegebenen Gesellschaft anpasse“. Und
indem er weiter diese Regel als variabel bezeichnet, und hierdurch sich
gegen den Vorwurf, er sei Naturrechtler, zu verteidigen sucht, verwechselt
er, scheint mir, ganz offensichtlich sie selbst und ihren Inhalt!?, denn die
einzige Rechtsregel Duguits'?: „ne rien faire qui porte atteinte & la soli-
darite sociale sous l’une de ses deux formes et faire tout ce qui est de
nature & realiser et & developper la solidarite sociale mecanique et organi-
que“ (S.17) ist unveränderlich — variabel und vom Juristen zu ermitteln
ist nur ihr Inhalt. Aber diese Rückkehr zum Naturrecht wäre verzeihlich,
würde D. mit seinem einzigen Satz und den aus ihm abzuleitenden Folge-
rungen, aus denen sein Naturrecht besteht, nur eine Forderung an
den Gesetzgeber aufstellen, dem tunlichst Anerkennung verschafft
werden soll. Aber der französische Gelehrte geht weiter. Denn indem er
eben nicht die tunlichste Anerkennung dieser Regel verlangt, sondern
sie als feststehendes, objektives Recht hinstellt, dem sich jedes Individuum
unterordnen müsse, gelangt er zu ganz ungeheuerlichen Konsequenzen für
die Beurteilung staatlicher Willensakte. . . „Les declarations de volonte des
gouvernants“ heißt es da (S. 88): „n’ont de valeur que dans la mesure oü
elles sont conformes & la rögle de droit... . qui s’impose & tous les mem-
bres d’une m&me societe, parce qu’elle est comme l’armature de cette
>)
115.54: „Nous persistons & croire que l’Etat est lie par un droit
superieur & lui .. . .*
ı2 Das tritt deutlich auf S. 164 zutage... . „le droit n’est pas un en-
semble de principes absolus et immuables, mais au contraire un ensemble
de regles changeantes, variables avec le temps.“
13 Daß er sie als solche auffaßt, ergibt sich, außer aus den bisherigen
Zitaten, aus einer Stelle auf S. 17, die sich unmittelbar an die Inhaltsan-
gabe der Regel anschließt: „Tout le droit objectifse resume en
cette formule, et la loi positive pour ötre legitime, devra ätre l’expres-
sion le developpement ou la mise en oeuvre de ce principe.“