Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 30 (30)

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Dr. Friedrich Freiherr von Wieser, Professor der Staatswissenschaft in 
Wien, Recht und Macht. Sechs Vorträge. — Leipzig, Duncker & 
Humblot, VIII und 154 S. 
Die neuere Wiener Nationalökonomenschule mit ihrer Lehre vom sub- 
jektiv bestimmten Grenznutzwert ist in hervorragendem Sinne individual- 
psychologisch örientiert. Sie sucht nicht den Wert der Ware aus dem 
Durchschnittsnutzen für ein individuell unbestimmtes Mitglied der Gesamt- 
heit zu ermitteln, sondern sie fragt nach dem Grenznutzen, den ein be- 
stimmter einzelner Gegenstand für den bestimmten Einzelnen hat, der ihn 
verwenden kann. In gleicher Art sucht WIESER nach der Erkenntnis des 
Wesens der Gesellschaft in seinen sechs Vorträgen aus den Salzburger 
Hochschulkursen, die nach dem Vorwort eigentlich den etwas längeren 
Titel „Gesellschaft, Recht, Macht und Freiheit“ tragen müßten. Er erklärt 
Staat und Gesellschaft, die in ihnen herrschenden Mächte, das in ihnen 
waltende Recht, ihre geschichtliche Entwickelung nicht aus der Natur des 
Staates, der Gesellschaft, des Rechts, nicht mit Hilfe des mathematischen 
Egoisten, der seinen Vorteil genau kennt und nach ihm handelt, sondern 
aus der Psyche des Einzelnen, seiner Wertung, heraus. Sein Bedürfnis 
zur Gleichartigkeit mit den andern, zur gesellschaftlichen Bindung, die 
„Psychologie des Man“ führen dazu, daß Recht und Staat sind. Wie sie 
sind, das hängt ab von den jeweiligen Wertungen in dem einzelnen dem 
Staat und dem Recht unterworfenen. 
Hat LASSALLE gesagt, nicht das Blatt Papier sei die Verfassung, son- 
dern die bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse, das Heer, der König, 
dem das Heer gehorcht, seien ein Stück Verfassung, so fragt WIESER, 
warum das Heer dem König gehorcht. Er nennt die Tatsache, daß stets 
wenige das Uebergewicht über die Masse haben, das „Gesetz der kleinen 
Zahl“ und erklärt es aus dem Vorteil der kleinen Zahl, der die Masse erst 
bewegungsfähig macht. Das Gesetz der kleinen Zahl ist, daß wenige voraus- 
gehen, die vielen folgen, aber nur, wenn der Weg der wenigen dem un- 
klaren Wollen der vielen entspricht. So wird durch die Anerkennung der 
Beherrschten die Macht zum Recht, die dem Bedürfnis der Masse ent- 
spricht; das von den wenigen gegebene Recht hat wirklich die Macht, ist 
volles Recht, das die vielen als Recht empfinden. Das Recht ist eine Funk- 
tion der Macht, die Ordnung der persönlichen Machtsphären, die sich ein 
Gemeinwesen um der Machtfülle seiner Werte willen gibt und durch alle 
Mittel seiner Macht aufrecht erhält, die gesellschaftliche Krönung der 
Macht. Ein Recht, das von einer rohen Uebermacht diktiert ist, von den 
Unterworfenen bestritten wird, dem die Masse nur mit dumpfer Ergebung 
gehorcht, ist nur halbes, schwaches Recht. Maßstab der Gerechtigkeit des 
Rechts ist nicht die Gleichheit, sondern die Uebereinstimmung des subjek- 
tiven Rechts mit der Leistung. Dabei ist die Bewertung der Leistungen, 
die sich in der Differenziierung der subjektiven Rechte äußert, die
	        
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