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die ganze proletarische Masse kommen. Was der Gegenwart fehlt, ist ein
gemeinschaftliches Freiheitsziel. WIESER glaubt, daß es sich aus den
Wirren der Gegenwart heraus entwickeln und damit die Auflösung der
gegenwärtigen, nicht allgemein anerkannten Rechtszustände zu einem neuen
vollen Recht bringen wird.
WIESERs Darlegungen zeichnen sich durch eine ungewöhnliche Weite
des Gesichtskreises und Vielseitigkeit der Betrachtung aus. In der hier
gegebenen eng zusammenfassenden Darstellung konnte das nur zum ge-
ringsten Teil hervortreten. Was er sagt, kann nicht in allem und jedem
neu sein, aber, wie er es sagt, ist stets neu und anregend. Mit seiner Lehre
von der Gültigkeit des Rechts nach dem Maße seiner Macht im Geiste der
Rechtsuntertanen eröffnet er höchst bedeutsame Ausblicke für die Rechis-
philosophie. Zu bedauern ist, daß seine, eben deshalb hier kaum wieder-
gegebenen, Ausführungen zur Kritik der Gegenwart, nicht von gleicher
Klarheit sind, wie seine allgemeinen, für alle geschichtlichen Epochen
gültigen Darlegungen. Er sagt in seinem Vorwort, der Wunsch, den Frei-
heitsbegriff des alten Liberalismus wieder mehr zu Ehren zu bringen und
ihm durch den Nachweis eine festere Stütze zu geben, daß der Begriff der
Freiheit nıcht allein mit dem Individuum verbunden sei, sondern daß sie
zu ihrer vollen Verwirklichung die Stütze geschichtlich bewährter Freiheits-
mächte notwendig fordere, die sie aber, um sie stützen zu können, zugleich
einschränken müssen, dieser Wunsch habe ihn sein Buch schreiben lassen.
Es fehlt aber dem Buch eine klare Bestimmung eines Ziels, eines Inhalts
des für die Gegenwart berechtigten Freiheitsstrebens.
Berlin. Bleeck.
Dr. jur. Otto Fischer, Expropriationsverträge. Stuttgart,
W. Kohlhammer, 1910. VI und 108 S.
Die vorliegende Schrift hat sich zur Aufgabe gesetzt, zu der Frage
Stellung zu nehmen, ob und wie weit nach der Einleitung des Expropria-
tionsverfahrens zwischen Exproprianten und Expropriaten Verträge ab-
geschlossen werden können (S. 2). Solche nach Einleitung des Verfahrens
abgeschlossenen Verträge werden kurz als „Expropriationsverträge“ be-
zeichnet (S. 34). Anläßlich der Erörterung der eingangs aufgeworfenen
Frage findet der Autor auch Gelegenheit, allgemeine Probleme des Ent-
eignungsrechtes zu behandeln. So beschäftigt sich ein Abschnitt mit der
Voraussetzung und dem Zweck der Expropriation (S. 2 ff.), ein zweiter mit
den Subjekten der Expropriation und deren Rechtsstellung (8.7 ff.), ein
dritter mit dem Objekt der Expropriation (8. 14 ff.), ein vierter mit der
Entschädigung (S. 17 ff.), ein fünfter mit dem Enteignungsverfahren (8. 24 ff.),
ein sechster mit dem rechtlichen Charakter der Enteignung (S. 29 ff.). Die
Enteignung wird als ein öffentlich-rechtlicher Akt, als ein einseitiger Staats-
akt, definiert, dessen Folge die Neubegründung von Privateigentum ist;