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einen Staates schwer verletzt, ihn äußersten Falles sogar aus der Liste
der selbständigen Staaten streicht? Und solch einen Fehlspruch soll dann
die internationale Polizeimacht mit Gewalt erfüllen ? Wäre das nicht Ver-
gewaltigung, die bei den anderen Staaten nur Mißtrauen gegen diese In-
stitution aufkommen lassen würde?
Solange es Lebensfragen gibt, müssen diese von den Staaten selbst
entschieden werden. Jeder Staat muß so lange Richter über das bleiben,
was seine Lebensinteressen angeht, so lange objektive Maßstäbe zur Be-
urteilung der Lebensinteressen nicht vorhanden sind. Denn in der Gegen-
wart kann ein in Lebensfragen ergehender Schiedsspruch sehr leicht das
Lebensinteresse eines Staates verletzen und ihn so mehr oder weniger dem
Untergange weihen. Dazu aber darf in Wahrheit kein völkerrechtliches
Organ dienen. Denn das Völkerrecht beruht auf dem Nebeneinanderbestehen
selbständiger Staaten.
Sobald aber auch Lebensfragen schiedsrichterlich entschieden werden
können — wie dieser Zustand erreicht wird, habe ich in Nr. 2 des „Ame-
rican Journal of international law“ (1913) ausgeführt —, brauchen wir
keinen Polizeibüttel. Denn das Interesse jedes einzelnen Staates an der
Erfüllung der internationalen Verpflichtungen ist viel zu groß, als daß ein
Staat, der einmal nach dem Haag gegangen ist, sich weigern sollte, den
Haager Spruch zu erfüllen.
Das ist gewiß nicht das letzte Wort über dieses schwerwiegende Pro-
blem, auf das neuerdings wieder durch das Vorgehen der internationalen
Flotte gegen Montenegro hingewiesen worden ist. Gerade auf Grund dieses
letzteren Zwischenfalles wäre nochmals zu überlegen, ob eine internatio-
nale Flotte, wenn nicht zur Erzwingung von Schiedssprüchen, so doch zu
anderen Zwecken von Wert wäre. An dieser Stelle wollte ich nur zu einer
eingehenderen Darstellung des Problems anregen.
Düsseldorf. Hans Wehberg.