— 61 —
für Kriegstüchtigkeit dem Kaiser neben derjenigen für die Voll-
zähligkeit zur Pflicht gemacht ist, daß also beide Obliegenheiten
nicht identisch sein können. Seine Argumentation geht im übri-
gen ebenfalls zurück auf die Behauptung, die Präsenzziffer sei
eine Maximalziffer. Einen Grund hierfür sieht er darın, daß ım
Art. 67 Ersparnisse am Militäretat vorgesehen seien, und solche
hauptsächlich durch Verringerung des Effektivbestandes er-
zielt werden könnten. Es bedarf wohl keiner langen Auseinander-
setzung darüber, daß man hieraus nicht auf die rechtliche Natur
der Friedenspräsenzstärke schließen kann.
Ihre hauptsächlichste Stütze findet die Auffassung der Frie-
denspräsenzstärke als einer Maximalziffer darin, daß die Regie-
rung zeitweise auf demselben Standpunkt stand, wie der Abge-
ordnete MIQUEL?® als Berichterstatter zum Reichsmilitärgesetz am
13. April 1874 erklärte, und weiter in der Tatsache, daß beson-
ders in den Zeiten des Pauschquantums bis 1874 die Armee
tatsächlich oft unter der gesetzlichen Ziffer vorhanden war;
dagegen enthält weder die Reichsverfassung noch irgend ein
Präsenzgesetz eine dahingehende authentische Interpretation des
Begriffs „Friedenspräsenzstärke“. Seit dem 3. August 1893 ent-
halten diese Gesetze vielmehr die Erklärung der Präsenzziffer
als der „Jahresdurchschnittsstärke“. Nun soll ja nicht
verkannt werden, daß eine Regierungserklärung, wie sie zum
Militärgesetzentwurf erfolgte, für die Auslegung eines Gesetzes
von großer Bedeutung sein kann. Es muß jedoch in erster Linie
versucht werden, den Inhalt der Verfassung aus ihrem
Wortlaute und Zusammenhang zu finden. Diese Art der Ausle-
gung ist bisher den Friedenspräsenzgesetzen gegenüber noch nicht
mit Nutzen angewendet worden. Es wird sich im Laufe dieser
Abhandlung zeigen, wie die Interpretation der Reichsverfassung
ohne allzugroße Berücksichtigung der Regierungserklärungen zu
späteren Gesetzen zu völlig andern Ergebnissen führen kann.
—| —
”® Stenographische Berichte des Reichstags 1874 S. 751.