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Wer die Vorgänge und Wandlungen der inneren Politik, welche Deutsch-
land seit Bismarcks Entlassung durchgemacht hat, aufmerksam verfolgt hat,
wer besonders die Gestaltung des Parteilebens vorurteilsios und kritisch
miterlebt hat, der wird nicht mehr zweifeln können, daß das Programm
der parlamentarischen Regierung in Deutschland die vordringlichste aller
innerpolitischen Fragen ist. Die drei großen Etappen ‘in der Gestaltung
dieser Dinge sind gekennzeichnet durch den vormärzlichen Liberalismus,
die Entwicklungsgeschichte der nationalliberalen Partei und durch die Block-
politik der Konservativen und der Zentrumspartei. Hat die erste Etappe die
Grundlagen einer demokratischen Parlamentsbildung gelegt, die national-
liberale Partei aber die Aera des Bismarckschen Konstitutionalismus herauf-
und wieder ihrem Ende zugeführt, so ist es der Block der Konservativen
und des Zentrums gewesen, welcher unserem Zeitalter die parlamentarische
Regierung aufgenötigt und damit die Koalitionspolitik der großen Linken
geweckt und gerechtfertigt hat.
Von der endgültigen Stellungnahme des Zentrums zur Rechten und von
der Sammlung aller liberalen Elemente zur Linken und im Bunde mit der
Sozialdeınokratie wird die dauernde Befestigung der parlamentarischen Re-
gierung in Deutschland auf der einen Seite abhängig; auf der anderen Seite
wird aber die Haltbarkeit solcher Parteigruppierung bedingt durch die an-
haltende Widerstandskraft des Reichs gegenüber den Tendenzen partikula-
ristischer Sonderenfwicklung, wie sie trotz allem überall vorhanden sind
und gegenwärtig am stärksten in Preußen in die Erscheinung treten.
SCH. hat durch die einsichtige, mutige und wahrhaftige Art, mit der
er das Problem beleuchtet hat, sich ein entschiedenes Verdienst um die
Klärung der vorliegenden Kernfrage unseres deutschen Verfassungslebens
erworben. Dies muß jeder zugeben, mag er für Erhaltung des alten Kon-
stitutionalismus oder für Einführung der parlamentarischen Regierungsform
sein.
Auf die Anregungen, die ScH. in der Frauenfrage und den andern
behandelten Gegenständen gibt, soll hier nur in aller Kürze hingewiesen
werden.
1. Die „Politisierung der Frau“ wird wie diejenige der Staatsrechts-
wissenschaft gefordert. Ein bestimmtes Programm für das Maß der Rechte
der Frau wird nicht aufgestellt, dem Gesamtton nach aber verlangt Ver-
fasser volle Gleichberechtigung unter der Voraussetzung völlig gleicher
Vorbildung.
2. Ein Kapitel, bei welchem es unmöglich ist, in der Rolle des objek-
tiven Referenten zu verweilen, ist das von dem Verfassungsproblem der
protestantischen Kirche handelnde. Die unzeitgemäßen, tiefen und ver-
hängnisvollen Unwahrheiten, welche das „landesherrliche Kirchenregiment‘
mit sich gebracht hat, schreien nach ihrer Entlarvung. Es ist deshalb der
Satz SoH.s zu unterstreichen: „Nur ein völliger Bruch mit dem landesherr-