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hier die Grundlinien aufzuzeichnen, in denen sich das Völkerrecht ent-
wickeln muß, bevor der Friede auf Erden gesichert ist.
Daß das Völkerrecht letzten Endes dahin streben muß, die Kriege zu
beseitigen oder doch zu verringern, scheint mir gewiß, und niemand wird
die merkwürdige Ansicht v. Marrıtz teilen, das Völkerrecht stehe und
falle mit dem Kriege (, Völkerrecht“, Sonderabdruck aus „Die Kultur der
Gegenwart“, 1913, S. 548). Pınoty hat einmal betont, der Krieg sei die
Verneinung des Rechts, und daraus folgt meines Erachtens, daß die Völker-
rechtswissenschaft alles tun muß, um die Kriege durch rechtliche Methoden
der Streiterledigung seltener zu machen. Daher verkennt derjenige die
wahren Aufgaben des Völkerrechts, der den Krieg als einen immanenten
Bestandteil der internationalen Rechtsordnung betrachtet. In diesem Sinne
habe ich mich einmal dahin geäußert, die Völkerrechtswissenschaft müsse
pazifistisch sein oder sie werde nicht sein. Damit habe ich selbstverständ-
lich der Völkerrechtswissenschaft nicht die Aufgabe zuweisen wollen, Frie-
denspropaganda zu treiben, wie NıppoLD im „Jahrbuche des Oeffentlichen
Rechts“ (1913) meint. Denn die Friedenspropaganda muß Aufgaben er-
füllen, die mit Wissenschaft nichts zu tun haben. Ich wollte lediglich an-
deuten, daß das Völkerrecht dem hohen Ziele zustreben soll, die zwischen-
staatlichen Beziehungen rechtlich zu gestalten. Daß das Wort „pazifistisch“
noch einen unangenehmen Beigeschmack hat, wird zwar vom propagan-
distischen Standpunkte aus dahin führen, es in der Oeffentlichkeit mög-
lichst wenig zu verwerten. Ich halte es auch für durchaus begreiflich, daß
der „Verband für internationale Verständigung“ das Wort „pazitstisch‘
meidet, wie ich das ebenfalls in meinen Artikeln in der Kölnischen Zeitung
und der sonstigen Tagespresse zu tun pflege. Aber wenn ich einen wissen-
schaftlichen Aufsatz schreibe, so wird es immer das richtigste sein, das-
jenige Wort zu verwerten, das in jenem Zusammenhange am prägnan-
testen ist.
Wissenschaft und Friedenspropaganda sind also zwei ganz verschiedene
Dinge, wie ich NıppoLn gerne zugestehe. Eine Verwischung der beiden
würde gewiß nur Unheil bringen. Dort, wo einer in scharfen Zügen aus
den gegenwärtigen Verhältnissen heraus in Entwicklung der vorhandenen
Rechtsinstitute ein Bild des Seinsollenden ausmalt, wie das SCHÜCKING
in seinem großen Werke „Der Staatenverband der Haager Konferenzen“
(1912) getan hat, handelt es sich im letzten Grunde um wahre Wissen-
schaft, wie sehr auch vielleicht einige Einzelheiten eines solchen Buches
den strengen Boden der Wissenschaft verlassen. Dort aber, wo einer
das Ziel seiner Träume ohne einen organischen Anschluß an die be-
stehenden Rechtsgrundlagen darzutun sucht, handelt es sich lediglich
um Propagandaschriften. Das Werk pEn BEER POORTUGAELS muß der
zweiten Gruppe zugezählt werden. Es befürwortet vor allem drei Refor-
men, die vorbehaltslose Schiedsgerichtsbarkeit (nur Streitigkeiten, die die