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mus zugleich religiöse Verirrung, Abfall von Gott. „Ich fürchte
nicht die akute Krankheit der Demokratie“, sagte er in seiner
berühmten Rede im Erfurter Parlament über den Antrag des
Abgeordneten v. Bismarck, das Fürstenkollegium fallen zu lassen
und statt dessen den König von Preußen als konstitutionellen
König im Bundesstaate einzusetzen, — „ihr zu widerstehen ist
der Organismus des Staatskörpers in Deutschland noch stark
genug, ich fürchte die ehronische Krankheit des Liberalismus ...
Wie können die Anhänger jenes Systems mit solcher Zuversicht
jetzt vor uns hintreten, nach den Erfahrungen des Jahres 1848?
Standen sie da der entfesselten Bewegung nicht ebenso gegenüber,
wie jener Zauberlehrling den Gewässern, welche er heraufbe-
schworen hatte und nicht mehr zu bannen vermochte? Sie hatten
den Spruch vergessen, sie zu bannen, oder vielmehr dieser Spruch
stand nicht in ihrem Lexikon, denn dieser Spruch heißt Autori-
tät. Da wollten sie die Gewässer besprechen mit dem Zauber-
spruche ihres Systems: „Majorität! Majorität!“ Aber statt
sich zu legen, wuchsen sie empor und schwollen immer höher
und gingen nun schon bis an die Kehle, als endlich in Wien und
Berlin der rechte Spruch der Autorität getan wurde, da verflog
der Spuk in einem Nu.“ (15. April 1850, Siebzehn Reden
S. 162).
Weit stärker noch und nachhaltiger wirkte die Lehre STAHLSs
in der deutschen Frage. Mit der ganzen Hingabe an die
großen vaterländischen Ziele, welche die Gelehrten seiner Zeit
auszeichnet, hat er ihr gedient. Gleichwie DAHLMANN in seinen
beiden „Revolutionen* den Zeitgenossen auf jedem Blatte das
porro unum est necessarium, die Notwendigkeit des Uebergangs
zum Konstitutionalismus, eindringlich predigte, wie noch schärfer
J. G. DROYSEN in der Geschichte der Freiheitskriege das Pro-
gramm des gemäßigten Liberalismus verfocht !, so setzte der
11! v, TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. V,
S. 409 f.