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I.
Das Zusammenleben der Menschen wird beherrscht von dem
Prinzip gegenseitiger Rücksichtnahme. Ethische wie wirtschaft-
liche Güter, ıdeelle wie materielle Interessen erscheinen schutz-
bedürftig gegenüber den Auswüchsen egoistischer Triebe des ein-
zelnen. Wesentlich in der Anerkennung dieser Schutznotwendig-
keit äußert sich das Steigen der Zivilisation. Umgekehrt: je
niedriger das Niveau eines Volkes, desto weniger erwächst dem
einzelnen ein stärkerer Schutz als die eigne Faust. Wandernde
Stämme sind sicherlich hierauf allein angewiesen: hier ist wohl
der Schutz des einzelnen am primitivsten, höchstens wird er durch
das verwandtschaftliche oder freundschaftliche Band gestärkt.
Solehe Urzustände lassen eben den natürlichen egoistischen Trie-
ben des einzelnen freien Lauf. Erst die Seßhaftigkeit und damit
zusarmmmenhängend das Entstehen des Staatsgebildes schaffen über-
haupt die Grundlagen für die Erhaltung und das Wohl des ein-
zelnen und dessen, was sein ist. Im Interesse des einzelnen wird
das Handeln der anderen beschränkt, der Verkehr zwischen ihnen
in bestimmte Bahnen gelenkt, so in sittlicher wie in wirtschaft-
licher Beziehung. Der Egoismus, die natürlichste Triebfeder allen
Tuns bricht sich an der starren Macht des Staats, ihren Geboten
und Verboten. Erst mit dem Entstehen des Staatsbegriffs tritt
das Moment des Gebundenseins des einzelnen auf. Solange der
Staat noch nicht vorhanden ist, ist der Schwächere das Werk-
zeug des Stärkeren, fällt er dessen Macht oder Gnade anheim.
Mit dem Augenblick des Entstehens des Staates muß diese Er-
scheinung zu schwinden beginnen: die einzelnen im Staate er-
scheinen unter sich gleich, noch mehr — der Schwächere sogar
als der Schutzbedürftigere.
So entstehen alle jene Sätze, die man unter dem Begriff des
objektiven Rechts zusammenfaßt. Objektives Recht, dessen Normen
— wie man wohl zu sagen pflegt — bestimmt sind, die mensch-
lichen Machtbefugnisse in bindender Weise zu begrenzen. Vor-