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Ob zwei, oder mehrere, oder unendlich viele Glieder ın der
disjunktiven Norm einander gleichgestellt werden, macht für eine
Betrachtung der menschlichen Denkoperationen keinen wesent-
lichen Unterschied aus. Wohl aber besteht ein für unser Denken
nicht zu umgehender prinzipieller Gegensatz zwischen der Ein-
gliedrigkeit des kategorischen und der Mehrgliedrigkeit des dis-
junktiven Befehles. Die kategorische Norm stellt an das Subjekt
S die Anforderung, alles das und nichts anderes zu tun, als was
zur Verwirklichung des Prädikates erforderlich ist. Hier gibt es
für denjenigen, welcher sich der Autorität der Norm beugt, keine
Wahl bei der Beobachtung seines gesetzlichen Verhaltens. Nur
was von der Norm nicht getroffen und darum nach jeder Rich-
tung rechtlich irrelevant, weder normgemäß noch normwidrig ist,
bleibt seinem Belieben überlassen (z. B. rechtlich gleichgültige
Nebenumstände). Die disjunktive Norm dagegen räumt dem Sub-
jekt S eine Wahl zwischen mehreren Alternativen ein, die als
vom Standpunkt der normsetzenden Autorität vollkommen gleich-
wertig hingestellt werden. Jede der mehreren gestatteten Arten
des Verhaltens ist normgemäß, von der normsetzenden Autorität
gewollt, und trotzdem ist es rechtlich irrelevant und bleibt dem
Belieben des Subjektes überlassen, welchen der mehreren freige-
gebenen Wege es einschlagen will. Ueberdies ist auch hier,
wie bei der kategorischen Norm, alles von der Norm nicht Ge-
troffene und darum nach allen Richtungen hin rechtlich Irrele-
vante dem Belieben des Subjektes anheimgestellt.
Die Unterscheidung zwischen kategorischen und disjunktiven
Normen hängt daher aufs innigste mit jener zwischen rechtlich
Relevantem und rechtlich Irrelevantem zusammen. Die katego-
rische Norm gewährt keine Freiheit. Frei läßt diese Norm nur
dasjenige, was sie nicht regelt, also das Gebiet des rechtlich Ir-
relevanten, der „rechtsfreien“ Sphäre. Gäbe es nur kategorische
Normen, so wäre der Satz richtig, daß die Freiheit im Rechts-
sinne gleichbedeutend sei mit der Freiheit von Rechtsnormen.