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zu deren Anhängern auch der Verfasser gehört!, zu ergänzen resp. teil-
weise zu korrigieren.
Vorweg muß dem Autor die Richtigkeit seines Ausgangspunktes zuge-
standen werden. Bei seiner Konstruktion des Völkerrechtes handelt es sich
ihm nämlich darum, dasselbe einerseits als wirkliches „Recht“ im formalen
Sinne begreifen zu können, andererseits aber die Souveränität (d. h. Selb-
ständigkeit) der einzelnen innerstaatlichen Rechtsordnungen zu wahren.
Auf den ersten Blick scheint dies eine unmögliche Aufgabe zu sein. Ge-
wiß ist auch, daß sie die bisherige Theorie des Völkerrechtes nur unter
Preisgabe rechtslogisch notwendiger Prinzipien zu lösen versucht hat. Denn
sie arbeitet, wie VERDROSS richtig hervorhebt, entweder bewußt oder un-
bewußt mit einer doppelten Sollebene — d.h. mit einer selbstän-
digen innerstaatlichen Rechtsordnung und einer äußeren Völkerrechtsord-
nung, denen sie den Staat gleichzeitig rechtlich unterworfen sein läßt,
obwohl dies mit Rücksicht darauf, daß beide Rechtsordnungen — wie übri-
gens jede Mehrzahl von selbständigen Normensystemen — gegebenenfalls
inhaltlich in Widerspruch sein können, d. h. dem Staate entgegengesetzte
Pflichten auferlegen können (S. 336), rechtslogisch unmöglich ist, geradeso
wie es unmöglich ist, sich den Menschen von einem einheitlichen
normativen Beobachtungsstandpunkte gleichzeitig zwei verschiedenen
Normsystemen — etwa dem moralischen und rechtlichen — unterworfen zu
denken. „Denn für jedes Normsystem gilt der Satz des Dekaloges: Du
sollst keinen Gott haben außer mir*?.
Für die positivistische Rechtsbetrachtung gilt nun der weiter nicht be-
weisbare Satz, daß nur diejenigen und zugleich alle diejenigen Normen als
Rechtsnormen zu betrachten sind, als deren Träger resp. Erzeuger der
Staat auf Grund einer in dessen Verfassung enthaltenen Zurechnungsregel
anzusehen ist. Beweisbar ist dieser Satz deshalb nicht, weil es sich um
eine terminologische Frage, d.h. um die Benennung einzelner Normen-
systeme handelt. Denn ich kann selbstverständlich nicht beweisen, warum
ich gewisse Normen Moralnormen, andere religiöse, und wieder an-
dere rechtliche nenne. Ich muß aber, wenn ich mich auf den norma-
tiven Standpunkt versetze und von ihm aus Normen erkennen will, unbe-
dingt diesen Standpunkt präzisieren, d. h. ihn einheitlich machen, m. a. W.
jenes Kriterium feststellen, wodurch der Ausdruck eines Sollens zum Ge-
genstand meiner speziellen d. h. juristischen, moralischen, religiösen usw.
Erkenntnis d.h. zu einer Norm wird. Denn nur auf diese Weise wird eine
Mehrzahl von Normen zu einem einheitlichen, widerspruchslosen Norm-
ı Vgl. z. B. meinen Aufsatz: „Ueber zwei Hauptpunkte der KELSEN-
schen Staatsrechtslehre* in Grünhuts Zeitschrift XL. Bd.
2 Vgl. VkRDROSS in der Oesterr. Zeitschrift für öffentliches Recht, I. Bd.
S. 233.