— 409 —
Sollte nicht z. B. die deutsche Verfassungsgeschichte von Taeitus’
Germania bis auf Deutschlands heutige Reichsverfassung ursäch-
lich eng verknüpft sein mit gewissen Eigenschaften des deutschen
Charakters? Bekanntlich haben die Rassentheoretiker ähnliches
behauptet. Sie wollen den Ablauf der Weltgeschichte in ihren
Hauptzügen aus Rasseeigenschaften der Völker und der sozialen
Gruppen innerhalb desselben Volkes erklären. Gegen die unwissen-
schaftliche Entartung dieses Grundgedankens zu einer Rassenideologie
wendet sich OPPENHEIMERs Vortrag (II, 98 ff.) in schneidiger Reiter-
attacke. ÖOPPENHEIMER tritt. den leidenschaftlichen Rassentheoretikern
als ein ebenso leidenschaftlicher Milieutheoretiker entgegen. Vor-
zugsweise aus den Einwirkungen der Umwelt, nur nebenbei aus
dem mitwirkenden Faktor der Rassenbegabung, will er die Tat-
sachen der Entwicklung erklären. Aber mag man auch CHAMBER-
LAINs Germanomanie als unwissenschaftlich verdammen und in
seiner Konstruktion einer einheitlichen kelto-germano-slawischen
Rasse ein Trugbild der Phantasie erkennen, die Tatsache, daß es
im Völkerleben kausale Rasseeigenschaften gibt, spricht doch ge-
rade jetzt mit zu elementarer Gewalt zu uns, als daß wir sie nur
deshalb leugnen dürften, weil sie sich bisher der genauen wissen-
schaftlichen Feststellung entzog. Tausendfältig lehrt uns der Welt-
krieg ihre Wahrheit. Oder wäre sein Ausbruch zu verstehen ohne
den kalt berechnenden, erbarmungslos brutalen Handelsgeist der
Briten, ohne die revanche-lüsterne Eitelkeit und Ruhmsucht der
Franzosen, ohne den finstern Größenwahn der Panslawisten, ohne
die phantasieberauschte Selbstgefälligkeit und skrupellose Hinter-
haltigkeit als italienische Nationaltugenden ?
Aber wichtiger noch als das Problem der Rasse scheint mir
für den soziologischen Publizisten dasjenige der Nation. Die
Klärung des Begriffes „Nation“ ist die Voraussetzung für den Auf-
bau eines „Rechtes der Nationalitäten“. Um es vorweg zu nehmen:
Die Verhandlungen des zweiten Soziologentages haben in dieser
Hinsicht kaum einen wesentlichen Fortschritt der Erkenntnis ge-