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urteil seiner Interessenwägung, im Anschluß daran 2. die wirk-
liche — vielleicht abweichende — geschichtliche Interessenlage
bei Erlaß des Gesetzes und 3. die hiervon wiederum vielleicht ab-
weichende heutige soziale Interessenlage, 4. die tatsächlichen
gesellschaftlichen Wirkungen der Gesetzesvorschrift, und end-
lich 5. die Tatsachen wie die Ursachen einer etwa heute bestehenden
Rechtswirklichkeit in Ergänzung oder in Abweichung von
jener Gesetzesvorschrift, als: typische Vertragsschlüsse, Handels-
bräucheund Verkehrssitten, neues Gewohnheitsrecht. Alle diese für die
Interessenwägung vorbereitende Forschungstätigkeit ist — man
beachte das wohl — rein wissenschaftlich, ein Akt em-
pirischer Erkenntnis, und zugleich ist sie echt soziologisch
im Sinne unseres heuristischen Prinzips, denn
sie ist nicht möglich ohne die sorgfältige Betrachtung einerseits
der Einwirkungen von Wirtschaft, Technik, Sitte, Kultur usw.,
auf die drei Gebotselemente des Tatbestandes, der Norm und des
Zweckes, nicht möglich andrerseits ohne Betrachtung der Rück-
wirkung der fraglichen Gesetzesvorschrift auf jene anderen gesell-
schaftlichen Momente.
Damit ist dann eine wissenschaftlich feste Grundlage geschaffen
für die kritische Nachprüfung der prima facie ins Auge gefaßten
Gesetzesvorschrift im Hinblick auf ihren Gegenwartswert, d. h.
die inhaltliche Anpassung ihrer Interessenwägung und ihres sozi-
alen Zweckes an die heutige soziale Interessenlage, das heutige
Werturteil der führenden Kulturschicht des Volkes. Der Willens-
akt richterlicher Normfindung, dem diese Aufgabe alsdann zufällt,
darf auch seinerseits soziologisch genannt werden. Denn er ist
beherrscht von einer Vorstellung über den gesellschaft-
lichen Zweck und die gesellschaftliche Wirkung
der betreffenden Norm, und diese Vorstellung hat m. E. nicht
dahin zu gehen, daß ein angeblich individuelles Zweckbe-
bewußtsein und ein angeblich individuelles Werturteil eines als
Einzelwesen gedachten verstorbenen Gesetzgebers ausschlaggebend