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Der gewählte Gegenstand ist ein solcher, über den „sogar die Juristen
sich haben täuschen können“ (S. 14). „Das ist aber wieder, heißt es dann,
eine von den großen Erfahrungen dieses Krieges, daß es sich in allen
Dingen des Gedankens rächt, wenn man die theoretische Grundlage ver-
nachlässigt, Wir haben das Völkerrecht geschichtlich und politisch,
auch allgemein philosophisch, aber nicht genug juristisch behandelt
Sonst würden wir längst wissen, daß das Völkerrecht in Wahrheit von
allen Rechtszweigen der weitaus unvollkommenste ist.*
Und nun folgt eine Darstellung der verschiedenen Stücke, aus welchen
diese Unvollkommenheit besteht. Das ist alles sehr zierlich und einleuch-
tend vorgetragen, — in der Sache den Juristen, die sich mit der Lehre des
Völkerrechts beschäftigen, natürlich nicht unbekannt. Wenn diesen der
Vorwurf gemacht wird, das Völkerrecht nicht juristisch genug behandelt
zu haben, so ist das wohl nicht ganz zutrefiend ausgedrückt. Sie haben
es im Gegenteil nur allzu juristisch behandelt, das Unjuristische, das hier
überall hereinspielt, zu sehr beiseite zu schieben und ihm selbst juristische
Schönheiten zu verleihen gesucht, die es nun einmal nicht hat und nicht
haben kann. Zivilrechtliche Lehre und Gedankenzucht, der Stolz alles
echten Juristentums ist stets mit der Gefahr für das öffentliche Recht ver-
bunden gewesen, daß diesem von dorther ein fertiges Schema aufge-
zwungen wird. Und für das Völkerrecht gilt das ganz besonders. Daher
auch hier die großen Täuschungen und Enttäuschungen, wenn sich heraus-
stellt, daß die Wirklichkeit nicht ganz so schön ist, jedenfalls nicht auf
diese Weise.
Die völkerrechtlichen Urkunden des Weltkrieges. Her-
ausgegeben von Geh. Justizrat Dr. Th. Niemeyer und Dr. K. Strupp-
II. Band: Politische Urkunden zur Entwicklung des Weltkrieges
(Jahrbuch des Völkerrechts IV. Band). Duncker und Humblot, Mün-
chen und Leipzig 1916. VI u. 755 S.
Es handelt sich um die Fortsetzung des Werkes, von dem hier
Bd. XXXVI S. 501 f. die Rede war. Die „Entwicklung des Weltkrieges“,
div sich in den Urkunden dieses Bandes darstellen soll, ist nach dem In-
haltsverzeichnis gleichbedeutend mit „Eintritt weiterer Staaten in den
Krieg‘. Demgemäß würden hier, wenn wir nach dem völkerrechtswissen-
schaftlichen Gehalt fragen, vor allem diejenigen Rechtsinstitute in Betracht
kommen, deren Kern und Mittelpunkt gebildet wird von der Kriegser-
klärung. Was drum und dran jedesmal noch weiter vor sich geht,
bietet ja natürlich viel Stofl. Aber ist das alles auch juristisch wertvoller
Stoff? Sind alle Berichte der Diplomaten an ihre Hogierungen „völker-
rechtliche Urkunden ? Was z. B. Graf Czernin im österreichisch-ungarischen
Rotbuch schreibt über Bratianos Verlogenheiten (S. 547 ff.), das gibt Zeit-
und Sittenbilder ganz vortrefflicher Art, so daß auch ein Jurist sich daran