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Kreis „konservativer* Staatsbetrachtung wie FRIEDRICH JULIUS STAHL?
Und ebenso sind nicht die GENTZ uud MÜLLER Triarier der Restauration
wie LUDWIG voN HALLER. Die Scheidung nach Parteien führt auch sonst
zu Mißständen. So erscheint bei der „liberalen Staatsauffassung“ eines
T'REITSCHKE u. a. auch jenes Bekenntnis zur Machtnatur des Staates und
einer Staatsmoral, das den heutigen liberal-pazifistischen Dogmen schnur-
stracks zuwiderläuft. Aber selbst wenn man diese Schiefheiten des Bildes
ertragen könnte, — restlos läßt sich das Leben ja niemals in die Schab-:
lonen des Systems zwängen — wenn R. A sagte, mußte er auch B sagen;
hob er die „Realisten“ besonders heraus, so durfte er die juristische und
soziale Betrachtungsweise des Staates nicht unter den Tisch fallen lassen.
Unter seinen Quellen sucht man vergebens nach dem sozialen und juri-
stischen Staatsbegriff, wie ihn die moderne Staatsrechtswissenschaft formu-
liert hat. Die Definitionen KAnTs und selbst TREITSCHKES sind da kein
vollgültiger Ersatz. Gerade aber in dem verwirrenden Musterteppich poli-
tisch und philosophisch gefärbter Staatsanschauungen durften die klaren
Fäden unserer modernen spezifisch-juristischen Staatslehre nicht fehlen,
sonst verliert gerade der Lernende den festen Ausgangspunkt. Es wirkt
beinahe wie eine Ironie, daß man in dem RÜHLMANnNschen Bändchen
weder im Text noch in den Noten dem Namen JELLINEK begegnet! Den
Vorwurf eines Torsos muß man aber auch noch in anderer Beziehung gegen
die Arbeit des Verfassers erheben. Wenn sie (nach dem Vorwort)
„mithelfen soll zu freudigem Bekenntnis zum Staatsgedanken‘*, mußte das
eigentümlich Deutsche des Problems hervorgehoben werden. Das konnte
nur durch vergleichende Heranziehung der ausländischen Literatur ge-
schehen, die im dritten Teile überhaupt nicht zu Worte kommt, also noch
stiefmütterlicher behandelt wird als die deutsche im zweiten. Man ver-
stehe recht: wir plädieren nicht für noch größere Kompliziertheit des Stoffs
(wovon noch zu reden ist), aber ein Hinweis auf die Verschiedenheit des
deutschen und des westeuropäischen Staatsgedankens hätte sich — da ge-
nug Vorarbeit geleistet ist — ohne Hinaufsteigen zu entlegenen Quellen
bewerkstelligen lassen. Anschauliche Belehrung ist hier, auch für „weitere
Kreise“, von größter Wichtigkeit.
R. hat den einzelnen Originaläußerungen knappe Orientierungen über
die Verfasser vorangestellt und in Fußnoten dem T,ehrenden ebenso knappe
Fingerzeige für die Probleme der Textstellen zu geben versucht. Jene
sind nicht immer in Ordnung, z. B. II,8, wo Fenelon als Erzieher Lud-
wigs XIV. (!) bezeichnet wird, was nach den weiteren Worten der Stelle
kein bloßer Druckfehler sein kann. III, 28 vermißt man einen Hinweis auf
StAHLs Hauptschrift vom monarchischen Prinzip. Ebenso bedürfen die
Noten der Korrektur, obwohl wir im gleichen Atem gern zugeben, daß
sie eine gute Sachkenntnis verraten. Direkt falsch ist z. B. II, 11 die
Wiedergabe der Roscherschen Einteilung des Absolutismus. Als erste Stufe
Archiv des öffentlichen Rechts. XXXIX. 1. 8