fullscreen: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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gelegt gewesen, diesen Sturz herbeizuführen, ist 
böllig haltlos. 
Windthorst war nicht nur der hervorragendste, 
sondern auch der volkstümlichste deutsche Parla- 
mentarier seiner Zeit. Seine auffallende persön- 
liche Erscheinung war durch sein Auftreten auf 
zahlreichen Versammlungen wie durch die Kari- 
katuren der Witzblätter allgemein bekannt ge- 
worden. Wenn er, meist geführt von einem Frak- 
tionsgenossen, durch die Straßen Berlins ging, 
bildete er den Gegenstand der Aufmerksamkeit des 
Publikums. Der Gegensatz zwischen seiner kör- 
perlichen Hilflosigkeit infolge seiner großen Augen- 
schwäche und seiner geistigen Beweglichkeit und 
Frische wirkte ungemein drastisch. Und Windt- 
horst war nicht nur eine viel bewunderte, er war 
auch mehr und mehr eine der beliebtesten Persön- 
lichkeiten geworden; davon konnte jeder sich über- 
zeugen, welcher ihn im Verkehr mit den Führern 
aller Parteien beobachtete. Nicht am wenigsten 
trug dazu der köstliche Humor bei, welcher seine 
Unterhaltung belebte, wie er seinen Parlaments- 
reden eine besondere Würze verlieh. Zu den ge- 
winnendsten Charakterzügen Windthorsts gehörte 
auch seine Uneigennützigkeit, eine Eigenschaft, 
welche dem Führer einer großen politischen Partei 
mehr wie irgend eine andere das Vertrauen des 
Volks gewinnt. Ein vollgültiges Zeugnis legt hier 
die Tatsache ab, daß Windthorst, der in be- 
scheidenen Vermögensverhältnissen lebte, die ihm 
angetragene, mit bedeutenden Bezügen verbundene 
Stellung als Generaldirektor der fürstlich Thurn- 
und Taxisschen Verwaltung ablehnte, um seine 
parlamentarische Tätigkeit weiter ausüben zu 
können, nachdem er zuvor in dieser Angelegenheit 
einige hervorragende Persönlichkeiten, insbesondere 
den Erzbischof Melchers von Köln, um ihre Mei- 
nung befragt hatte. Windthorsts persönliche 
Selbstlosigkeit fand ihre schönste Ergänzung in 
seiner wirklichen Herzensgüte. Er vergaß niemals 
die Interessen seiner Freunde, und mitten in po- 
litischen Aktionen dachte er noch daran, wie er 
diesem oder jenem ungerecht Zurückgesetzten helfen 
könnte. 
Als parlamentarischer Debatter war 
Windthorst ohnegleichen. Wenn man ihn so an 
seinem Platz stehen sah, die rechte Hand in der 
Weste, den Kopf niedergebeugt, schien es, als 
nehme er an den Erörterungen keinen Anteil. Nur 
hie und da verriet ein Zug in seinem Gesicht oder 
eine treffende Zwischenbemerkung, daß er bei der 
Sache war. Und wie war er bei der Sache! 
Nichts entging ihm; sein fabelhaftes Gedächtnis 
ermöglichte ihm, eine sechsstündige Verhandlung 
in allen Einzelheiten festzuhalten und dann am 
Schluß in schlagfertiger, überlegener Polemik mit 
allen Vorrednern abzurechnen, obwohl er niemals 
eine Zeile schriftlich fixierte. Wie es scheint, hatte in- 
folge seiner Augenschwäche sein Gehör und sein Ge- 
dächtnis sich zu einer Schärfeentwickelt, welcheimmer 
wieder das Staunen seiner Zuhörer hervorrief. 
  
Windthorst. 
  
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Windthorsts rednerische Eigenart hat H. Car- 
dauns in einem unmittelbar nach dem Tod des 
Zentrumsführers veröffentlichten Aufsatz („Deut- 
scher Hausschatz“, 17. Jahrg. 1890/91, Nr 29) an- 
schaulich geschildert. „Windthorst hielt seine Zunge 
fest am Zügel, am festesten gerade dann, wenn er 
ihr den freiesten Lauf zu lassen schien. Er war 
ein Meister in der Beantwortung von Zwischen- 
rufen; seine Gegner taten ihm durch Unter- 
brechungen einen großen Gefallen; er antwortete 
jedesmal, schlagfertig, fast regelmäßig unter großer 
Heiterkeit; aber selbst die ärgsten Bosheiten kamen 
so harmlos heraus, daß der Getroffene mitlachen 
mußte. Hatte er die Zwischenrufer abgefertigt, so 
fuhr er genau an derselben Stelle fort, wo er 
unterbrochen worden war. Sein Humor war in 
allen Sätteln gerecht, fand stets den richtigen Ton, 
war immer nach der Umgebung schattiert, fein 
und derb, elegant und volkstümlich, ungesucht, 
leicht verständlich, ohne platt zu werden, wirkungs- 
voll im Salon wie auf der Studentenkneipe, im 
Parlament wie in der Arbeiterversammlung. Er 
vergaß nie, daß der Humor eine Würze sein soll, 
aber keine Speise ist. Selbst wenn er auf Kom- 
mersen eine Ansprache hielt, die einer Bierzeitung 
so ähnlich sah wie ein Ei dem andern, verfehlte er 
nicht, den jungen Leuten eine kleine Homilie zu 
halten; das war ihm die Hauptsache, und sie 
merkten es kaum, daß sie eine Predigt bekamen, 
die besser wirkte wie eine pathetische Standrede. 
Er war nicht, was man einen glänzenden Redner 
nennt; die sind selten die besten, wie auch die sog. 
„schönen Männer“ selten das wirkliche Ideal männ- 
licher Schönheit darstellen. Die äußern Mittel 
sehlten ihm fast ganz. Von Gestus konnte kaum 
die Rede sein, die Stimme knarrte etwas und war 
in den späteren Jahren schwach geworden. Für 
das Parlament reichte sie noch aus, wenn die 
Kollegen — und das taten sie bei ihm fast immer 
— die Privatunterhaltung einstellten, nicht da- 
gegen für die Riesensäle der Massenversammlungen. 
Auch die Mittel der Schulrhetorik gebrauchte er 
wenig. Das Pathos, die donnernde Apostrophe 
war nicht sein Fach. Als echter Dialektiker wandte 
er sich weit überwiegend an den Verstand. Er 
sprach nüchtern, ohne oratorischen Aufsputz; das 
Gefühlsmoment trat nur selten in Geltung, auch 
die humoristischen Lichter hat er weise verteilt. 
Aber auch langweilig wurde er nie. Wohl finden 
sich in seinen Parlamentsreden kahle Stellen, aber 
auch sie gehörten zu seiner rhetorischen Okonomie; 
er hatte, namentlich in der Einleitung, wohl einen 
Gemeinplatz nötig, um sich zu sammeln. Vor- 
bereitet im gewöhnlichen Sinn war er ja nie, und 
auf jede Unterstützung durch das geschriebene Wort 
mußte er verzichten."“ 
Einen entscheidenden Einfluß übte Windthorst 
noch kurz vor seinem Ableben auf die Gründung 
des Volksvereins für das katholische 
Deutschland aus. Die Konstituierung erfolgte 
am 24. Okt. 1890 im Hotel Ernst zu Köln;
	        
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