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gelegt gewesen, diesen Sturz herbeizuführen, ist
böllig haltlos.
Windthorst war nicht nur der hervorragendste,
sondern auch der volkstümlichste deutsche Parla-
mentarier seiner Zeit. Seine auffallende persön-
liche Erscheinung war durch sein Auftreten auf
zahlreichen Versammlungen wie durch die Kari-
katuren der Witzblätter allgemein bekannt ge-
worden. Wenn er, meist geführt von einem Frak-
tionsgenossen, durch die Straßen Berlins ging,
bildete er den Gegenstand der Aufmerksamkeit des
Publikums. Der Gegensatz zwischen seiner kör-
perlichen Hilflosigkeit infolge seiner großen Augen-
schwäche und seiner geistigen Beweglichkeit und
Frische wirkte ungemein drastisch. Und Windt-
horst war nicht nur eine viel bewunderte, er war
auch mehr und mehr eine der beliebtesten Persön-
lichkeiten geworden; davon konnte jeder sich über-
zeugen, welcher ihn im Verkehr mit den Führern
aller Parteien beobachtete. Nicht am wenigsten
trug dazu der köstliche Humor bei, welcher seine
Unterhaltung belebte, wie er seinen Parlaments-
reden eine besondere Würze verlieh. Zu den ge-
winnendsten Charakterzügen Windthorsts gehörte
auch seine Uneigennützigkeit, eine Eigenschaft,
welche dem Führer einer großen politischen Partei
mehr wie irgend eine andere das Vertrauen des
Volks gewinnt. Ein vollgültiges Zeugnis legt hier
die Tatsache ab, daß Windthorst, der in be-
scheidenen Vermögensverhältnissen lebte, die ihm
angetragene, mit bedeutenden Bezügen verbundene
Stellung als Generaldirektor der fürstlich Thurn-
und Taxisschen Verwaltung ablehnte, um seine
parlamentarische Tätigkeit weiter ausüben zu
können, nachdem er zuvor in dieser Angelegenheit
einige hervorragende Persönlichkeiten, insbesondere
den Erzbischof Melchers von Köln, um ihre Mei-
nung befragt hatte. Windthorsts persönliche
Selbstlosigkeit fand ihre schönste Ergänzung in
seiner wirklichen Herzensgüte. Er vergaß niemals
die Interessen seiner Freunde, und mitten in po-
litischen Aktionen dachte er noch daran, wie er
diesem oder jenem ungerecht Zurückgesetzten helfen
könnte.
Als parlamentarischer Debatter war
Windthorst ohnegleichen. Wenn man ihn so an
seinem Platz stehen sah, die rechte Hand in der
Weste, den Kopf niedergebeugt, schien es, als
nehme er an den Erörterungen keinen Anteil. Nur
hie und da verriet ein Zug in seinem Gesicht oder
eine treffende Zwischenbemerkung, daß er bei der
Sache war. Und wie war er bei der Sache!
Nichts entging ihm; sein fabelhaftes Gedächtnis
ermöglichte ihm, eine sechsstündige Verhandlung
in allen Einzelheiten festzuhalten und dann am
Schluß in schlagfertiger, überlegener Polemik mit
allen Vorrednern abzurechnen, obwohl er niemals
eine Zeile schriftlich fixierte. Wie es scheint, hatte in-
folge seiner Augenschwäche sein Gehör und sein Ge-
dächtnis sich zu einer Schärfeentwickelt, welcheimmer
wieder das Staunen seiner Zuhörer hervorrief.
Windthorst.
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Windthorsts rednerische Eigenart hat H. Car-
dauns in einem unmittelbar nach dem Tod des
Zentrumsführers veröffentlichten Aufsatz („Deut-
scher Hausschatz“, 17. Jahrg. 1890/91, Nr 29) an-
schaulich geschildert. „Windthorst hielt seine Zunge
fest am Zügel, am festesten gerade dann, wenn er
ihr den freiesten Lauf zu lassen schien. Er war
ein Meister in der Beantwortung von Zwischen-
rufen; seine Gegner taten ihm durch Unter-
brechungen einen großen Gefallen; er antwortete
jedesmal, schlagfertig, fast regelmäßig unter großer
Heiterkeit; aber selbst die ärgsten Bosheiten kamen
so harmlos heraus, daß der Getroffene mitlachen
mußte. Hatte er die Zwischenrufer abgefertigt, so
fuhr er genau an derselben Stelle fort, wo er
unterbrochen worden war. Sein Humor war in
allen Sätteln gerecht, fand stets den richtigen Ton,
war immer nach der Umgebung schattiert, fein
und derb, elegant und volkstümlich, ungesucht,
leicht verständlich, ohne platt zu werden, wirkungs-
voll im Salon wie auf der Studentenkneipe, im
Parlament wie in der Arbeiterversammlung. Er
vergaß nie, daß der Humor eine Würze sein soll,
aber keine Speise ist. Selbst wenn er auf Kom-
mersen eine Ansprache hielt, die einer Bierzeitung
so ähnlich sah wie ein Ei dem andern, verfehlte er
nicht, den jungen Leuten eine kleine Homilie zu
halten; das war ihm die Hauptsache, und sie
merkten es kaum, daß sie eine Predigt bekamen,
die besser wirkte wie eine pathetische Standrede.
Er war nicht, was man einen glänzenden Redner
nennt; die sind selten die besten, wie auch die sog.
„schönen Männer“ selten das wirkliche Ideal männ-
licher Schönheit darstellen. Die äußern Mittel
sehlten ihm fast ganz. Von Gestus konnte kaum
die Rede sein, die Stimme knarrte etwas und war
in den späteren Jahren schwach geworden. Für
das Parlament reichte sie noch aus, wenn die
Kollegen — und das taten sie bei ihm fast immer
— die Privatunterhaltung einstellten, nicht da-
gegen für die Riesensäle der Massenversammlungen.
Auch die Mittel der Schulrhetorik gebrauchte er
wenig. Das Pathos, die donnernde Apostrophe
war nicht sein Fach. Als echter Dialektiker wandte
er sich weit überwiegend an den Verstand. Er
sprach nüchtern, ohne oratorischen Aufsputz; das
Gefühlsmoment trat nur selten in Geltung, auch
die humoristischen Lichter hat er weise verteilt.
Aber auch langweilig wurde er nie. Wohl finden
sich in seinen Parlamentsreden kahle Stellen, aber
auch sie gehörten zu seiner rhetorischen Okonomie;
er hatte, namentlich in der Einleitung, wohl einen
Gemeinplatz nötig, um sich zu sammeln. Vor-
bereitet im gewöhnlichen Sinn war er ja nie, und
auf jede Unterstützung durch das geschriebene Wort
mußte er verzichten."“
Einen entscheidenden Einfluß übte Windthorst
noch kurz vor seinem Ableben auf die Gründung
des Volksvereins für das katholische
Deutschland aus. Die Konstituierung erfolgte
am 24. Okt. 1890 im Hotel Ernst zu Köln;