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sie wird auch jetzt noch gehandhabt?®. Ob das so bleiben,
und wie sich üherhaupt unter dem System der parlamentarischen
Regierung die Reichstagsinitiative gestalten wird, ist fraglich. Die
Vermutung spricht dafür, daß sie keine sehr große praktische
Bedeutung gewinnen wird. Bei dem engen Zusammenhange, der
zwischen der Reichstagsmehrheit und der Reichsregierung besteht,
ist es der Mehrheit nicht schwer, die Regierung zur Einbringung
gewünschter Gesetzentwürfe zu veranlassen; die Mitglieder des
Reichstags können sich die Mühe eigener Vorarbeiten sparen, die
mindestens für größere Gesetzentwürfe erforderlich sind. Auf der
andern Seite kann zwar weder die Regierung, noch die Reichstags-
mehrheit die Stellung von Gesetzesanträgen durch Außenseiter oder
durch die Minderheitsparteien verhindern. Aber bei dem Einflusse,
den wiederum die Regierung auf die Parlamentsmehrheit und auf
einen dieser gefügigen Vorsitzenden auszuüben vermag, ist es ihr
ein Leichtes, die Beratung und Verabschiedung der ihr unbequemen
Anträge zu verhindern oder doch zu verzögern. Dies wird durch
die Erfahrungen aus andern Staaten mit parlamentarischer Re-
gierung, namentlich aus England, bestätigt”. Soweit es bei der
kurzen Zeit, in der die neue Reichsverfassung in Kraft steht,
möglich ist, ein Urteil zu äußern, wird man sagen können, daß
28 S. aber Drucks. der Nationalvers. Nr. 1789. Hier bringt der 23. Aus-
schuß als solcher einen Gesetzentwurf ein. Der Antrag ist nur vom
Vorsitzenden und Schriftführer unterzeichnet. Obwohl der Antrag auf
einem einstimmigen Ausschußbeschlusse beruhte (Sten. B. S. 4140), wider-
spricht der Vorgang dem $ 22 der Gesch.O.
2° In England liegen allerdings die Verbältnisse formell insofern anders,
als dort die Initiative überhaupt nur beim Parlamente ruht. Sie wird aber
tatsächlich zumeist von den Ministern als den Führern der Unterhaus-
mehrheit ausgeübt, und die Praxis der Geschäftsbehandlung sorgt dafür,
daß die Entwürfe der „private members“ völlig hinter denen des „Executive
Government“ zurücktreten ; sie haben nur geringe Aussicht, überhaupt zur
Verhandlung zu kommen. Vgl. die interessante Darstellung bei ILBERT,
Legislative methods and forms (Oxford 1901), S. 98 ff. und darnach Har-
SCHEK, Englisches Staatsrecht 1, S. 444 ff.