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der Verfassung, bewirkt worden. Nach dessen Abs. 4 soll die
Reichsregierung „sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetz-
entwürfe von grundlegender Bedeutung“ vor ihrer Einbringung
dem Reichswirtschaftsrate vorlegen. Freilich nicht zur
Zustimmung, sondern nur zur Begutachtung. „Vor ihrer Ein-
bringung“, sagt die Verfassung, nicht „vor ihrer Einbringung beim
Reichstage“. Das ist absichtlich so gefaßt worden. Denn der Staaten-
ausschuß legte bei den Verhandlungen über den Artikel beson-
deren Wert darauf, daß das Votum des Reichswirtschaftsrats dem
Reichsrate bei seinen Beratungen schon bekannt sei; auch wollte
er vermeiden, daß bei einem Zwiespalte zwischen der Reichsre-
gierung und dem Reichsrate der Reichswirtschaftsrat die Rolle
einer Art von höherer Instanz zugewiesen erhielte®. Die Ansicht
ging also dahin, daß die Anhörung des Reichswirtschaftsrats der
Vorlage an den Reichsrat vorausgehen müsse. Im Gesetze ist
das aber nicht zu klarem Ausdrucke gekommen. Denn „Ein-
bringung“ bedeutet nach der Sprechweise der Verfassung immer
soviel wie Vorlage an den Reichstag (Art. 68, 69). Die Regie-
rung wird mithin die Instruktion, die ihr die Verfassung gibt, auch
dann erfüllen, wenn sie das Gutachten des Reichswirtschaftsrats
erst nach der Beschlußfassung des Reiehsrats herbeiführt. Auf
der andern Seite bezieht sich aber die Vorschrift auf alle
Gesetzentwürfe des bezeichneten Charakters, die die Reichsregie-
rung beim Reichstage „einbringt“, d. h. ihm vorlegt, nicht nur
etwa auf die aus ihrer Initiative hervorgegangenen. Die Re-
gierung ist also gehalten, auch die Initiativanträge des Reichsrats
und alle auf einem Volksbegehren beruhenden Gesetzentwürfe
dem Gutachten des Reichswirtschaftsrats zu unterstellen, voraus-
gesetzt, daß solche Entwürfe sozial- oder wirtschaftspolitischen
Inhalt haben und von grundlegender Bedeutung sind.
S, die Erklärung des sächsischen Bevollmächtigten Geheimrat
PoETzZScH im Verfassungsausschuß, 42. Sitzg. vom 18, Juni 1919, S. 37.